Serow Tolerance

Gefährliche Orte XLVI: Nach 88 Stunden im eiskalten Prenzlauer Berg wollte der mutmaßliche Hintze-Entführer zurück ins warme Potsdam

Remember Hintze? Der gute Junge aus Geltow, der vor etwas mehr als einem Jahr in einem Erdloch verschwand? Am 14. September 1997 wurde Matthias Hintze (20) aus seinem Heimatdorf entführt, in einen BMW-Kofferraum geworfen und in einer kleinen Grube auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz an der Müritz versteckt: eine Million Mark Lösegeld. (Jungle World, Nr. 42/97)

Knapp vier Wochen später nahm die Berliner Polizei zwei Russen fest. Die Berliner Lokalpresse nutzte die Zeit, um fast täglich über den Fall zu berichten. Die Bild-Zeitung ging sogar so weit zu behaupten, Hintze habe "aus Verzweiflung" seine Schuhe aufgegessen. Sergej Serow (37, "Das Hirn", Bild) und Wjatscheslaw Orlow (26, "Sein Helfer", Bild) gestanden die Tat und führten die Polizei zu dem Versteck, in dem Hintze tot aufgefunden wurde. Das öffentliche Entsetzen über den Fall war immens, der Russen-Mafia, die angeblich hinter allem gesteckt haben soll, wurde mal wieder der Kampf angesagt und Alwin Ziel, Innenminister von Brandenburg, meinte: "Die ganze Härte des Gesetzes wird sie treffen."

Dazu hatte Sergej Serow offenbar keine besonders große Lust, so bequem ist das Leben in der Justizvollzugsanstalt Potsdam nun auch wieder nicht. Serow arbeitete dort als Haushandwerker und bildete sich fort. Sein Anwalt Matthias Schöneburg: "Er trieb viel Sport, las viel, feilte an seinen Deutschkenntnissen." Aber nicht nur daran. Eines Tages bricht er so klassisch aus dem Knast aus, wie Hanni und Nanni aus dem Mädchenpensionat flüchten: an einem Strick aus Bettlaken.

"Ein Justizskandal!" ruft der Bund der Kriminalbeamten, Brandenburgs Justizminister Hans Otto Bräutigam muß tagelang um seinen Posten bangen, und für Wolfgang Klein, Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion in Brandenburg, ist das alles "eine gang, ganz ärgerliche Sache".

Am 14. November, einem Sonnabend, wird Serow um 17.45 Uhr in seine Zelle eingeschlossen. Weil er am nächsten Morgen ausschlafen will, bittet er darum, nicht zum Frühstück geweckt zu werden - das gibt es in der JVA nämlich schon um 7 Uhr. Aus dem Kunststoff der Klobrille in seiner Zelle hatte er sich zwei Nachschlüssel mit je zwei Bärten geschnitzt, die also zu insgesamt vier Türen passen. Die Klappe, durch die das Essen gereicht wird, muß er vor dem Einschluß von außen aufschließen. Damit das nicht auffällt, wird die Klappe mit einem Kaugummi und einem Pflaster fixiert. Durch diese Öffnung gelangt er an das Zellenschloß, das ebenfalls nur von außen zu bedienen ist. Ein weiterer Schlüssel paßt zu einer Tür im Gebäude, dann drei Stockwerke rauf, Dachluke aufschließen, noch ein paar Ziegel beiseite schaffen, sieben Stück Bettlaken mit Paketband zusammenbinden, abseilen, über die 2,50 Meter hohe Mauer hüpfen und mit dem Handy ein Taxi nach Berlin rufen. So einfach ist das, der Graf von Monte Christo hätte ziemlich neidisch gestaunt.

Serows Flucht um 22.47 Uhr ist sogar auf Video dokumentiert: Die Überwachungskameras des Verkehrsministeriums gegenüber zeichnen alles auf, während die Wachleute Karten spielen.

Als Serow am Sonntag nicht zum Mittagessen erscheint, werden die Vollzugsbeamten stutzig, um 12.56 Uhr wird seine Flucht gemeldet. Bereits zwei Stunden später ist eine europaweite Zielfahndung eingeleitet. Und auch im brandenburgischen Basdorf arbeitet eine 20 Mann starke Spezialeinheit an dem Fall: "Die haben noch jeden gekriegt." (Berliner Kurier) Am Abend laufen die ersten Hinweise aus der Bevölkerung ein.

Ende Januar sollte eigentlich der Prozeß gegen Serow und seinen Kumpel Orlow, der in Brandenburg/Havel einsitzt, beginnen. Die Anklage lautet auf erpresserischen Menschenraub mit Todesfolge. Der Tötungsvorsatz mußte im Januar 1997 fallen gelassen werden, weil Biesenthaler Sachverständige beweisen konnten, daß durch die Lüftungsrohre, die in Hintzes Grube waren, "genug Luft zum Überleben" einströmen konnte.

Aber gegen Serow und Orlow wird noch in einem weiteren Fall ermittelt. Der 50jährige Computerhändler Alexander Galious wurde am 8. Juni 1997 entführt, eine Million Mark Lösegeld. Die beiden streiten die Tat ab, Galious' Familie ist jedoch von deren Schuld überzeugt: 300 000 Mark setzen sie für Hinweise zur Ergreifung Serows aus. Für Spuren, die zu Alexander Galious führen, hatten sie schon einmal 500 000 Mark angeboten. Galious' Sohn Wenjamin hat seine ganz eigene Version von der Geschichte: "Mir liegen Hinweise vor, daß die Flucht von Serow organisiert worden ist. Er wollte auspacken. Man will so verhindern, daß er Hintergründe und die Auftraggeber der Entführung meines Vaters benennen kann."

Eine größere Organisation soll also hinter der Entführung und der Flucht stecken. Wer mag das nur sein? Wer Galious' Anwalt Andreas Schulz fragt, erfährt es: Die russische Mafia habe Serow befreit, um ihn zu ermorden, weil er aussagen wolle. Im Dezember 1997 hatte das bei Wenjamin Galious noch so geklungen, als wolle er genau dem gezielt entgegenwirken: "Solange Serow und Orlow über das Schicksal meines Vaters nicht reden, spielen sie mit ihrem Leben und dem ihrer Angehörigen." Wer will da wem an die Wäsche, und woher kommen die 300 000 Mark? Auch die Familie Galious scheint ja ganz gute Kontakte nach Rußland zu haben.

Serow treibt sich derweil in Berlin herum und friert. An einer Baustelle an der Prenzlauer Allee trifft er am Dienstag den 36jährigen Lokführer Frank L., der ihn - wie er sagt aus Mitleid - in die leere Wohnung seines Halbbruders Oliver W. in der Gaudystraße 4, Hinterhof, Parterre, einquartiert. Am nächsten Morgen sieht er beim Bäcker Serows Bild in der Zeitung und telefoniert mit der Polizei.

Der Anruf wird als Hinweis Nummer 89 registriert, Schutzpolizei ist unterwegs, sondiert die Lage. Um 14 Uhr ist klar, daß der Mann in der Wohnung Serow ist, um 14.30 Uhr fliegt eine Blendgranate in die Wohnung, und das Rollkommando stürmt hinterher. Alles geht ruckzuck. Weil das Berliner SEK gerade Besuch vom BGS hatte, haben sie die Kollegen einfach mal mitgenommen, um ihnen zu zeigen, wie man sowas in Berlin macht. Gäste haben, das wissen wir von Asterix, bei Raufereien traditionell den Vortritt. Serow wird leicht verletzt nach 88 Stunden auf freiem Fuß in die JVA Moabit gebracht.

Inzwischen glaubt keiner mehr die Samariter-Geschichte von Frank L. "Der Held von Berlin" (Berliner Kurier) wird zu Serows Fluchthelfer ernannt, der seinen Kumpel wegen lumpiger 300 000 Mark eiskalt verraten hat. Als er sich das Geld beim Potsdamer Anwaltsbüro abholen will, wird er von der Kripo zum Verhör gebracht. Überhaupt will Galious-Anwalt Axel Hodok mit der Auszahlung noch mindestens zwei Wochen warten, und L. soll das Geld nur bekommen, wenn er "sauber" ist. Die Summe ist nach seinen Angaben inzwischen aber nur noch "vierstellig".