Die Grenzen fest geschlossen

Für seinen Vorschlag, die Einwanderung nach Deutschland auf Null zu begrenzen, erhält Innenminister Schily Beifall von den Grünen bis zu den Republikanern

Die Formulierung ließ alle Möglichkeiten offen: "Wir erkennen an, daß ein unumkehrbarer Zuwanderungsprozeß in der Vergangenheit stattgefunden hat und setzen auf die Integration der auf Dauer bei uns lebenden Zuwanderer, die sich zu unseren Verfassungswerten bekennen." So hatten es Bündnisgrüne und SPD Ende Oktober in ihre Koalitionsvereinbarung geschrieben.

Auch wenn die beiden Regierungspartner in dem Papier die Frage, wie die Zuwanderung nach Deutschland künftig geregelt werden soll, unbeantwortet ließen, jubelte die Grünen-Fraktionschefin im Bundestag, Kerstin Müller, schon: "Diese Bundesregierung wird anerkennen, daß die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist." Die Abkehr von der Position der alten Regierung konnte kaum deutlicher ausfallen: "Deutschland ist kein Einwanderungsland", hatte es im gemeinsamen Wahlprogramm der beiden Unionsparteien geheißen.

Vier Wochen nach Regierungsantritt hat Innenminister Otto Schily (SPD) "die Tür zu einem Saustall aufgezogen, den seine Vorgänger nie so recht betreten wollten: der Ausländerpolitik" (Spiegel). Wie schon in der Koalitionsvereinbarung, bezieht sich die rot-grüne Regierung mit ihren Aussagen über Zuwanderung seit letzter Woche vornehmlich auf die Vergangenheit: "Deutschland war ein Einwanderungsland, als es Arbeitnehmer angeworben hat", erklärte Justizministerin Herta Däubler-Gmelin am Sonntag dem Berliner Tagesspiegel.

Auf die Gegenwart bezogen, könne davon jedoch nicht mehr die Rede sein: "Wenn unter dem Wort Einwanderungsland ein Land verstanden wird, das Menschen zur Zuwanderung ermuntern will, ist Deutschland heute kein Einwanderungsland", erläuterte die Justizministerin die sozialdemokratische Neudefinition des Begriffs.

Schily hatte die Debatte eine Woche zuvor losgetreten. Ebenfalls im Tagesspiegel hatte er gesagt: "Die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands durch Zuwanderung ist überschritten." Auch ein Einwanderungsgesetz könne an dieser Situation nichts ändern, da die Zuwanderungsquote dann auf "Null" gesetzt werden müsse.

Schilys Parteifreunde klatschten fleißig Beifall. Allen voran ausgerechnet seine Parlamentarische Staatssekretärin im Innenministerium, Cornelie Sonntag-Wolgast. Noch vor zwei Jahren hatte die SPD-Frau einen eigenen Entwurf für ein Einwanderungsgesetz vorgelegt, der jährlich 300 000 Menschen den Zuzug in die BRD ermöglichen sollte. Sowohl im Streit um den Großen Lauschangriff wie in der Auseinandersetzung um das Asylbewerberleistungsgesetz war sie als Kritikerin an den repressiven Konzepten Schilys hervorgetreten. Heute gilt das nicht mehr: Für ein Einwanderungsgesetz gebe es zur Zeit keinen Bedarf, weil es, so Sonntag-Wolgast, auf kurze Sicht keine Wirkung habe. Und auch den Rückgriff auf die "Das Boot ist voll"-Rhetorik Schilys konnte sie sich nicht verkneifen. In der Formulierung fast wortgleich, hält sie einen weiteren Zuzug von Ausländern nach Deutschland für "nicht mehr verkraftbar".

Auch die Grünen, die ihre ursprüngliche Forderung nach einem Einwanderungsgesetz bereits mit dem Eintritt in die Regierung zurückgestellt hatten, hielten sich mit Kritik an dem Schily-Vorstoß zurück. So bezeichnete die Grünen-Vorstandssprecherin Gunda Röstel die Worte des Innenministers zwar als "falsches Signal", äußerte zugleich aber Verständnis für die SPD und ihre "Rolle als Volkspartei". Auf Stammtischparolen, so ihr Rat, sollte Schily künftig jedoch keine Rücksicht mehr nehmen. Auch der Grünen-Innenpolitiker Cem Özdemir beschränkte sich in seiner Kritik auf den politischen Stil Schilys, als er ihm vorwarf, rechte Wähler einbinden zu wollen.

Um die eigene Klientel scheinen sich die einstigen Befürworter einer "Grenzen auf für alle"-Regelung keine Sorgen zu machen. So gab die neue Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck, Schily gar recht, indem sie klarstellte, "daß niemand im Moment eine aktive Einwanderungspolitik mit dem Ziel einer generellen Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer betreiben will": Ein - von den Grünen noch in der letzten Legislaturperiode im Bundestag vorgelegtes - Einwanderungsgesetz sei nicht "der erste Punkt auf der politischen Agenda".

Selbst die FDP ging in der vergangenen Woche über die Grünen-Kritik an den Schily-Statements hinaus. Die frühere Ausländerbeauftragte der Kohl-Regierung, Cornelia Schmalz-Jacobsen, nannte es ein "Spiel mit dem Feuer", die Erwartung zu wecken, daß sich die Zuwanderungsquote auf Null senken ließe. Im Gegensatz zur Ökopartei, die ihre früheren Zuwanderungskonzepte zugunsten des Koalitionsfriedens brav in den Schubladen versteckt hält, kündigte FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle an, in den kommenden Wochen einen eigenen Gesetzesentwurf zur Zuwanderung einzureichen.

Das Dilemma quotierter Zuzugsregelugen machte freilich auch er deutlich: Die Auswahlkriterien müßten sich an den Interessen der Bundesrepublik orientieren. Neben einer Quote für Aussiedler, die schrittweise gesenkt werden soll, ist in dem FDP-Papier - wie in den Entwürfen der Grünen und der SPD aus der letzten Legislaturperiode - eine Quote für Arbeitsmigranten vorgesehen, um den Bedarf der Wirtschaft an ausländischen Arbeitskräften gezielt zu decken. Mit diesen Quoten soll die Zahl der Asylsuchenden und der Familiennachzügler verrechnet werden. Unter dieser Voraussetzung, so Westerwelle, werde Deutschland "gesellschaftlich und wirtschaftlich" von einem Zuwanderungsgesetz profitieren - und die potentiellen Einwanderer sich neuen Selektionskriterien ausgesetzt sehen.

Auch wenn einzelne Sozialdemokraten kritisierten, daß Schily mit seinen Äußerungen an die Republikaner-Parole "Das Boot ist voll" angeknüpft habe, verbanden sie diese Einschätzung allesamt - wie beispielsweise der SPD-Bundesgeschäftsführer Ottmar Schreiner - mit einer Rechtfertigung Schilys. So gab Schreiner zu bedenken, daß der Innenminister sich in der Formulierung vergriffen, seine Wortwahl "nicht richtig abgewogen habe" - eine mögliche Einwanderungsquote müsse aber sehr wohl "in Relation gesetzt werden zur Arbeitsmarktsituation".

Auch Däubler-Gmelin nahm ihren Kabinettskollegen vor dem Vorwurf in Schutz, rechtsextreme Positionen zu übernehmen, und sagte, "daß Herr Schily falsch verstanden wurde" - um ihm gleich darauf doch wieder zuzustimmen: "Was er meinte, war mit Sicherheit, daß die Regierung es angesichts von mehr als drei Millionen Arbeitslosen nicht verantworten kann, eine weitere Gruppe zur Zuwanderung zu ermuntern." Ein Einwanderungsgesetz aber würde diesen Eindruck nur verstärken.

Wie weit Schily mit seinen Vorschlägen bereits ins Terrain der Rechten eingedrungen ist, macht die Zustimmung in den Reihen der Konservativen deutlich. Die herzlichsten Glückwünsche kamen aus München: Der bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) begrüßte die Äußerungen Schilys als "bemerkenswert realistisch und erfreulich deutlich". Schon in den nächsten Wochen werde Bayern im Bundesrat einen Gesetzesvorschlag einbringen, um den Zuzug von Ausländern nach Deutschland zu begrenzen - mit einer "breiten Zustimmung" der SPD-regierten Länder und der SPD-Fraktion, so Beckstein, werde gerechnet.

Am meisten geärgert haben dürfte sich Schily freilich über den Beifall aus der Ecke, die zu bedienen er so heftig bestreitet: "Ich beglückwünsche den Bundesinnenminister zu seiner Erkenntnis", freute sich der am Wochenende wiedergewählte Vorsitzende der Republikaner, Rolf Schlierer: "Schily hat nur ausgesprochen, was jeder vernünftige Mensch in Deutschland seit 20 Jahren weiß."