Täter des Blabla

Die Neue Zürcher Zeitung henkt Alfonse D'Amato

Ein Mann, durch ein überdimensioniertes Wahlkampfemblem als Politiker gekennzeichnet, hängt an einem Seil mit Henkerknoten. Die Füße baumeln knapp über dem Boden. Der Körper ist zu großen Teilen bloße Fläche für politische Eigenwerbung. Er hängt an einer leeren Sprechblase. Unterzeile: "Opfer des Blabla". Die Karikatur ist erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 7./8. November.

Was war passiert, daß eine der bedeutendsten auf bürgerliche Seriosität bedachten Tageszeitungen Europas eine Karikatur abbildet, die aus dem Stürmer sein könnte - so es das völkische Hetzblatt noch gäbe? Die kurze Fassung lautet: Der Mann heißt Alfonse D'Amato, ist Abgeordneter der US-Republikaner im Senat, hat vergangene Woche zum vierten Mal für den Bundesstaat New York kandidiert und die Wahl verloren. - Weil er im Wahlkampf viele "platte Phrasen bemüht" und eine "beispiellos oberflächliche Kampagne gegen die Schweiz" geführt habe, hatte die NZZ bereits eine Woche zuvor erklärt.

Die längere Fassung ist etwas komplizierter: Der Mann heißt Alfonse

D'Amato und hat als republikanischer Senator während der letzten Jahre die Forderungen von US-amerikanischen Juden nach Rückgabe ihrer von Schweizer Banken einbehaltenen Vermögenswerte zu einem internationalen Thema der Politik gemacht (Jungle World, Nr. 34/98). Am 13. August dieses Jahres führte nicht zuletzt D'Amatos Vorgehen, das neben demokratischem Antifaschismus auch auf den wirtschaftlichen Protektionismus von Teilen seiner Partei zurückzuführen ist, zu einem Vergleich zwischen zwei Schweizer Großbanken und jüdischen Klägern in Höhe von 1,25 Milliarden Dollar (etwa 2,2 Milliarden Mark).

Die NZZ hat ihm diese "Erpressung (...) mit Druck von amerikanischen Regierungsstellen des Bundes und der Gliedstaaten", wie es am 13. August hieß, nicht verziehen. In Kommentaren wurde jedoch zugunsten der Wendung "gewisse New Yorker Kreise" meist auf Namen verzichtet. Neben D'Amato waren dabei immer die Anwälte der Kläger, der US-Unterstaatssekretär Stuart Eizenstat und der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Edgar Bronfman, gemeint.

Tenor der meisten Kommentare: Opfer, nicht etwa Täter, waren die Schweizer Banken, die zu einem "Ab-lasshandel" gezwungen wurden, der "Schweizerbürger", der mit seinen Banken erpreßt werde, die einheimischen Politiker, die zu "Sündenböcken" (alle Zitate zwischen dem 13. und dem 18. August) gemacht worden seien.

Wenn es um die wirklichen Täter ging, ließ man bis zum vergangenen Wochenende andere für sich sprechen: Noch am 5. November durften beispielsweise in einem Bericht "die meisten Bürger" New Yorks "empfinden", D'Amato sei ein "schmieriger, von spendierfreudigen Sonderinteressengruppen gesteuerter Politiker". Und "seine Feinde" würden ihn ohnehin "als 'Küchenschabe', die einfach nicht auszumerzen sei", titulieren. Schließlich sei es aber doch gekommen, wie es bei einem wie D'Amato kommen mußte. Er wurde bei der Wahl besiegt - "vom Sproß einer mittelständischen jüdischen Familie, die in Brooklyn ein kleines Unternehmen für Ungezieferbekämpfung geführt hatte".

Höhnisch klingt durch: Der Jude und Ungezieferspezialist Charles Schumer hat den Katholiken und "Populisten

par excellence" "ausgemerzt". Neben D'Amato gab es dabei, glaubt man der NZZ vom 29. Oktober, aber noch eine weitere Verlierererin: die Erinnerung an den Holocaust, dessen "Profanierung im Wahlkampf" durch den "Patron der jüdischen Bevölkerung" - sprich Judenfreund D'Amato - einerseits und den "Juden Schumer" andererseits betrieben worden sei.

Daß auch die Juden selbst nicht unbedingt als Sieger aus dieser Diskussion hervorgehen würden, hatte die NZZ bereits am 13. August, dem Tag des Vergleichs zwischen jüdischen Klägern und Schweizer Banken, prophezeit: Dort hieß es zu einer möglichen Zunahme des Antisemitismus in der Schweiz nach der "Erpressung": "Wer hilflos wütend ist (...), sucht nach Sündenböcken." Diese seien "in den USA, und nicht hier in der Schweiz oder in anderen Ländern zu suchen". Schließlich hätten "die führenden jüdischen Exponenten der Schweiz (Ö) die Banken seit Monaten von einem Nachgeben abzuhalten versucht".

Doch der Appell, die in der Schweiz lebenden Juden als "Sündenböcke" zu verschonen, zeigt keine Wirkung: Ein in der vergangenen Woche vorgelegter Bericht der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) kommt zu dem Ergebnis, daß sich der Antisemitismus in der Schweiz ab 1996, also dem Beginn der Diskussion um die Ansprüche von Juden auf zurückgehaltene Vermögen in den Tresoren zwischen Basel und Zürich, "neu manifestiert habe".

Aktionen von Negationisten, Schmäh- und Drohbriefe von Antisemiten an prominente Juden, antisemitische Schmierereien, Parolen und Übergriffe sowie Äußerungen von Politikern, Parteien und Medien gegen Juden hätten sprunghaft zugenommen, heißt es in dem Bericht, der vom Schweizer Bundesrat in Auftrag gegeben worden war.

Und weiter: Neben "einem Sockel von zehn Prozent an 'harten' Antisemiten" könne rund ein Drittel aller Schweizer "zum Opfer von Propaganda werden, die explizit oder implizit antisemitische Stereotype" einsetze, faßt die NZZ den EKR-Bericht auf ihre Art zusammen. Und spart weitgehend aus, was sie selbst betreffen könnte: Der größte Teil des Berichtes behandelt

die öffentliche Diskussion um Juden, Schweizer Banken und Antisemitismus anhand einer Analyse von Leserbriefen in Tages- und Wochenzeitungen.

Ausgewertet wurden Zuschriften, die nach einem Interview des ehemaligen Bundespräsidenten Jean-Pascal Delamuraz Ende 1996 veröffentlicht wurden. Delamuraz hatte damals die Sprachregelung, Entschädigungszahlungen an Holocaust-Opfer oder deren Angehörige kämen einer "Lösegelderpressung" gleich, geschaffen.

Ihm schlossen sich im Lauf der Zeit zahlreiche Schweizer Politiker von links und rechts an. Der Aufruf der Partei Schweizer Demokraten (SD), "sämtliche amerikanischen und jüdischen Waren, Restaurants und Ferienangebote zu boykottieren", vom Sommer dieses Jahres bildete dabei nur die Spitze der Diskussion.

Die NZZ, die Leserzuschriften zweimal pro Woche ein bis zwei Seiten innerhalb des Feuilletons einräumt, erwähnt diesen Teil des Berichts nur in einem Satz und ohne sich selbst als Untersuchungsobjekt anzugeben. Dafür geht sie aber um so genauer auf die vom Umfang her wesentlich kleineren Teile des EKR-Papiers zur Geschichte des Antisemitismus in der Schweiz und Strategien zu dessen Eingrenzung oder Überwindung ein.

Nicht ohne Grund: "Für mich ist der 13. August zum 'Tag der Kapitulation und der Demütigung' geworden", hatte ein Leser nur wenige Tage nach dem Banken-Kläger-Vergleich geschrieben. "Die Schweiz als Kleinland wurde von der einzigen Großmacht erpresst", wußte am selben Tag ein anderer, ohne die "einzige Großmacht" (Die USA? Wallstreet? Die Achse Washington-Jerusalem? Gar das Weltjudentum?) konkret zu benennen.

Noch Schlimmeres witterte Leser Greber in these days of August: "Noch nie hat ein Erpresser sein Opfer aus den Klauen gelassen, bevor es total ausgequetscht war", schrieb er und meinte nicht etwa den Kreditbeauftragten seiner Schweizer Hausbank, die staatliche Steuerbehörde oder seinen Chef, sondern die jüdischen Kläger, denen die Banken "die Ehre unseres Landes" verkauft hätten.

Bis heute sieht ein Teil der NZZ-Leserschaft die Schweiz unter "jüdischem Beschuss" (30. Oktober), vom Willen "gewisser jüdisch-amerikanischer Kreise" (9. Oktober) beeinflußt oder schlicht als "kleinmütige Schweiz" von der "amerikanischen Macht" unterdrückt (16. Oktober). Amerika steht hier synonym für seine "Juden" oder "Judenfreunde".

Auch der mittlerweile verstorbene Bundesrat Delamuraz findet noch immer seine Anhänger: "Herr Delamuraz wurde, als er das Wort Erpressung wählte, leider zu einem 'je regrette' gezwungen. Wie tief sind wir gesunken, welch sinnloser Zauberformel-Politik huldigen wir?" fragte noch Mitte Oktober Leser Schaerer.

Ein Kommentar in der Wochenendausgabe, in der auch die D'Amato-Karikatur veröffentlicht wurde, gibt Antwort auf solch schwierige Fragen. Als Ursachen des Antisemitismus werden unter der Überschrift "Ernüchterung im Antirassismus" die "Probleme der 'Antisemiten'" selbst benannt: "Von persönlichen Faktoren einmal abgesehen", gebe es "ein weites Feld" von "Mühen um schweizerische 'Identität'" sowie zahlreiche "Belastungen durch wirtschaftlichen und zivilisatorischen Wandel", versucht der Kommentator seine Leserschaft zu verstehen. Dazu kämen noch "die geistig-moralischen Verunsicherungen".

Dennoch müßten "antisemitische Ersatzideologien", so sie nicht auszutrocknen wären, "in ihrer Ecke gehalten werden". Der Kommentar steht auf Seite 25, die D'Amato-Karrikatur hingegen wird auf Seite zwei in der Ecke gehalten.