Das Verfahren gegen Pinochet

Gutes Recht

Die demokratische Öffentlichkeit ist entsetzt. Es gibt eben keine Gerechtigkeit mehr auf dieser Welt. Kaum wurde er in einer komfortablen Londoner Privatklinik von Scotland-Yard-Beamten festgesetzt, winkt dem chilenischen Ex-Diktator Augusto Pinochet schon wieder die Freiheit. Zumindest, wenn das House of Lords, das britische Oberhaus, sich im Berufungsverfahren nicht doch noch anders entscheiden sollte.

Recht und Gerechtigkeit, so die bittere Erfahrung der empörten Demokraten, ist eben nicht dasselbe: Der britische Richter Lord Bingham billigte dem greisen Diktatoren vergangene Woche den Diplomatenstatus zu. Dagegen blieb der das postfranquistische Gesetzbuch Spaniens "bis zum letzten Paragraphen" ausnutzende Sonderrichter Baltasar Garz-n eher erfolglos, wie die Frankfurter Rundschau resignierend feststellte. Nur weil es in London Richter gibt, "die Pinochet noch mit dem rückwärtsgewandten Blick einer Margaret Thatcher sehen", entgehe der einstige Diktator nun seiner gerechten Strafe. Ein Machtbeweis der Konservativen also, nach Ansicht der FR geht es hier vor allem um eine Art Generationenkonflikt: Zwischen den alten "Realpolitikern, die ihre Deals mit der oft brutalen Wirklichkeit im Schutze staatlicher Souveränität machten" und "den neuen Praktikern der Macht, für die die Verteidigung der Menschenrechte nicht mehr an den Grenzen enden soll".

Der spanische Richter und die britische Labour-Regierung repräsentieren in dieser Sichtweise das Gute: Sie stehen für Gerechtigkeit, wie sie beispielsweise von den Angehörigen der Ermordeten gefordert wird. Dabei geht es allenfalls um einen symbolischen Akt, Pinochet - so stellte eine chilenische Indigena-Organisation zutreffend fest - ist schließlich nur eine "Vorzeigefigur", damit der militärische Apparat und die ökonomische Modernisierungs-Elite ihre Hände in Unschuld waschen können.

Als demokratischer Don Quichotte gefeiert, will Garz-n das Verfahren gegen Pinochet auf jeden Fall weiterführen und dessen Auslieferung nach Spanien verlangen - gegen den offensichtlichen Mißmut des regierenden Partido Popular und der spanischen Staatsanwaltschaft, die dem Franco-Bewunderer Pinochet politisch zweifellos näher stehen als den während der chilenischen Militärdiktatur Ermordeten. Und die Regierung Blair würde den General schon ausliefern, wären da nicht die üblen Tories.

Diese Gut-Böse-Inszenierung soll nur vergessen machen, daß die Unterstützer Pinochets genauso ehrenwerte Demokraten sind wie jene, die ihm jetzt an seinen Senatorenkragen wollen. Ohne eine kapitalistische Modernisierung ˆ la Chile sähe auch die Politik von Clinton oder Blair deutlich anders aus.

Auch die können nämlich echte "Realpolitiker" sein, wenn es darauf ankommt. Zeigte die US-Regierung sich vor allem bemüht, daß die eigenen Verstrickungen in die Morde und Folterungen der Operaci-n C-ndor nicht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen, so hatte der britische Außenminister Robin Cook dem Ex-Diktator noch im September einen gebührenden VIP-Empfang bereitet.

Auch in Deutschland empört man sich über den britischen Richterspruch. Über die deutsche Colonia Dignidad, die Pinochets Geheimdienst Dina hilfreich zur Hand ging, oder über die ausgezeichneten Beziehungen von Franz-Josef Strauß und anderen Politikern zum Pinochet-Regime wird hingegen kein einziges Wort verloren.