Auf dem Weg nach Kanaky

In Neukaledonien wird über die schrittweise Unabhängigkeit von Frankreich abgestimmt

Eine der letzten französischen Kolonien wird am 8. November wahrscheinlich den Weg in ihre mittelfristige Unabhängigkeit bestätigen. Neukaledonien, jene langgestreckte Insel im westlichen Pazifik mit derzeit knapp 200 000 Einwohnern auf rund 19 000 Quadratkilometern, soll über das nach der Inselhauptstadt benannte "Abkommen von Nouméa" abstimmen. Da die wichtigsten politischen Bewegungen der Insel das Abkommen unterstützen, besteht kaum Zweifel daran, daß der Vertrag mit überwältigender Mehrheit angenommen wird.

Auf das Abkommen hatten sich am 21. April 1998 die französische Zentralregierung, die Unabhängigkeitsbewegung FLNKS und die pro-französischen Loyalistenpartei RPCR geeinigt. Der Front de Libération nationale kanake et socialiste (Kanakische sozialistische Front der nationalen Befreiung; FLNKS) vertritt die große Mehrheit der sich selbst als "Kanaky" (Menschen) bezeichnenden autochthonen Bevölkerung, während der eng mit dem gaullistischen RPR in der französischen Metropole zusammenarbeitetende RPCR überwiegend die weiße, europäischstämmige Bevölkerung vertritt.

Am 6. Mai dieses Jahres hatte der französische Premierminister Lionel Jospin bei einem 36stündigen Kurzbesuch auf der Insel seine Unterschrift unter das Abkommen gesetzt. In dem Vertragstext, ist eine 15- bis 20jährige Übergangsperiode zur Unabhängigkeit vorgesehen. Wenn mehr als 60 Prozent der Inselparlamentarier dies fordern, soll im Jahre 2013 über das Ja oder Nein zur endgültigen Unabhängigkeit abgestimmt werden; sollten sich weniger Abgeordnete dafür einsetzen, wird dies erst fünf Jahre später geschehen.

Damit löst das Abkommen von Nouméa, so es am Wochenende durch Votum der Bevölkerung verabschiedet wird, das zehn Jahren zuvor vereinbarte "Abkommen von Matignon" ab. Das vom damaligen sozialistischen Regierungchef Michel Rocard im Juni 1988 unterzeichnete Vertrag - benannt nach dem H(tm)tel Matignon, dem Amtssitz des französischen Premierministers - sah nach einer zehnjährigen Übergangsfrist, also für dieses Jahr, ein Referendum über die - dann endgültige - Unabhängigkeitserklärung vor. Bis dahin sollten Reformen zur Verbesserung der Lage der eingeborenen Bevölkerung durchgeführt werden.

Im Gegenzug für die jetzt festgelegte weitere Verzögerung der Unabhängigkeit verspricht Paris die schrittweise Übertragung von Souveränitätsrechten an die sogenannte Territorialversammlung Neukaledoniens. So soll etwa in der Frage der Einwanderung auf die Insel künftig Nouméa mitzureden haben. Dies betrifft vor allem die nach wie vor nach Neukaledonien einwandernden Europäer - überwiegend Fachkräfte, die zu Hause in Frankreich keine Arbeit finden und auf der Insel dank der Transferzahlungen aus der Metropole gutbezahlte Jobs bekommen. Seit dem Abkommen von 1988 sind bereits 15 000 neue europäische Bewohner dazugekommen, die am Sonntag aber noch nicht mitstimmen dürfen, da das Wahlrecht eine Aufenthaltsdauer von zehn Jahren vorschreibt. Die Kanaky, die derzeit 45 Prozent der Inselbevölkerung ausmachen, fürchten, in eine zunehmend minoritäre Position gebracht zu werden, während die französische Seite gegen nichteuropäische Einwanderung vorgeht.

Im März und April dieses Jahres landeten beispielsweise rund 100 chinesische Boatpeople an der neukaledonischen Küste. Sie wollten durch Emigration der sozialen Situation in China entfliehen oder wurden dort politisch verfolgt: Einer der Bootsflüchtlinge war ein Aktivist der Studentenbewegung von 1989, ein anderer war von der chinesischen Polizei schwer mißhandelt worden. Die Regierung in Paris reagierte sofort mit einer harten Linie und flog Polizeisondereinheiten aus der Metropole ein, um die ungeliebten Einwanderer zunächst festzusetzen und dann abzuschieben. Ein Teil der kanakischen Bevölkerung ging dagegen zu Solidaritätsdemonstrationen für die Chinesen auf die Straße, während sich die weiße Bevölkerung kaum rührte. Die Stellungnahme des FLNKS war aber eher merkwürdig: Ein prominenter Sprecher der Kanakys sprach sich zwar für ein Bleiberecht der chinesischen Bootsflüchtlinge aus - aber nicht auf der Insel, sondern in der französischen Metropole.

Die Kanaky waren von den europäischen Bevölkerung (Kolonialsiedlern, zu denen später auch Nachfahren politisch Verbannter hinzukamen) im Laufe der Jahrzehnte aus den fruchtbarsten Gegenden der Insel - welche die Weißen für ihre Viehzucht nutzen wollten - in die kahlen Berge abgedrängt worden. Zudem litten sie unter der massiven Umweltzerstörung durch den Nickel-Bergbau, den die Weißen betrieben - Neukaledonien besitzt etwa 30 Prozent der weltweiten Nickelvorräte.

Zum Zeitpunkt des Abkommens von 1988 stellte die kanakische Bevölkerung gerade mal einen Richter, einen Arzt und zwei Ingenieure. Dieser Unterrepräsentation sollte mit dem "400-Führungskräfte-Programm" begegnet werden, das die intensive Ausbildung einer - wenn auch schmalen - kanakischen Elite in der französischen Metropole einleitete. Immerhin gab es im Frühsommer dieses Jahres 344 Führungskräfte kanakischer Herkunft in der neukaledonischen Wirtschaft, gleichzeitig aber war der Anteil der Führungskader mit europäischer Abstammung in den letzten zehn Jahren von rund 2 000 auf über 4 500 gestiegen.

Das Abkommen von Nouméa sieht nun die Einführung einer "kanakischen Präferenz" für alle Arbeitsplätze vor. Bis zum Ende der europäischen Dominanz wird es aber noch längere Zeit dauern - ob unabhängig oder nicht. Immerhin kontrolliert der FLNKS seit Januar dieses Jahres eine Bergbaugesellschaft, an dem auch der weltweit zweitgrößte Nickelförderer Falconbridge beteiligt ist. Die Kritik am Nickelbergbau, der mit hohen Umweltbelastungen verbunden ist, ist seither deutlich zurückhaltender geworden.

Nach dem Abkommen von 1988, das nach vier Jahren militanter Krawalle der kanakischen Bevölkerung verabschiedet worden war, gab es auf der Insel große Unzufriedenheit, weil der FLNKS auf die unmittelbare Unabhängigkeit verzichtete und sie auf zehn Jahre vertagte. Den damaligen Chef der kanakischen Nationalbewegung, Jean-Marie Tjibaou, kostete diese Entscheidung das Leben - ein Jahr nach der Unterzeichnung des Abkommens von Matignon wurde er von einem Anhänger der sofortigen Abtrennung von Frankreich ermordet.

Derartigen Widerstand auf der Insel gab es diesmal jedoch nicht, und auch im Pariser Parlament ging das Abkommen ohne größere Probleme durch: Da die RPCR-Vertreter der Insel im Pariser Parlament einer gemeinsamen Fraktion mit den gaullistischen RPR-Abgeordneten angehören, war die Zustimmung großer Teile von Koalitionsparteien und Rechtsopposition im französischen Parlament zum Abkommen von Nouméa gesichert. Lediglich 20 Rechtsaußen-Konservative enthielten sich bei der Abstimmung der Stimme.

Protest gegen den Vertrag kam hingegen vom rechtsextremen Front National, der im Mai dieses Jahres seinen Parlamentssitz verloren hat. Die Regierung habe durch ihre Unterschrift unter das Abkommen eine "anti-französische, anti- abendländische und gegen den weißen Mann gerichtete" Politik zu verantworten, meinte der Kolonialkriegsveteran Roger Holleindre im Namen des FN und drohte den Kabinettsmitgliedern, sie wegen "Hochverrats" vor dem Staatsgerichtshof zu verklagen.