Allein unter Deutschen

Vom Leben einer afrikanischen Frau in einer brandenburgischen Kleinstadt

Eigentlich ist Miriame K. eine starke Frau: Gut 1,75 Meter groß ist die 30jährige, die aus der Republik Niger stammt. Ihre Figur wirkt fast athletisch. Wie konnte es passieren, daß sie von einem 17jährigen Hänfling auf offener Straße niedergeschlagen wurde?

Miriame K. kann sich die Frage selber nicht beantworten. Wenn sie aus der kleinen Küche Kaffee und Gebäck holt, sieht man, daß sie auch zwei Wochen nach dem Überfall noch etwas hinkt. Schlimmer als die paar blauen Flecken an der Hüfte sind die Verletzungen am Hals und am Ohr. Schon vor dem Überfall hatte sie eine Trommelfell-Prothese. Sie hat Angst, daß sie erneut überfallen werden könnte, wenn ihr Name in der Zeitung steht. Auch den Namen der Kleinstadt in Brandenburg, wo sie seit fünf Jahren wohnt, sollen wir aus demselben Grund nicht verraten: Vier oder fünf Afrikaner gibt es hier, darunter zwei Frauen. Sie ist die einzige, die nicht im Asylbewerberheim wohnt. Da wäre es ein leichtes, auf ihre Person zu schließen, wenn man einen Bericht in der Zeitung liest.

Sie ist kaum aus dem Haus gegangen in diesen zwei Wochen. "Wenn ich in ein Geschäft gehe, werde ich gefragt: Miriame, warst du das, die überfallen worden ist?" Sie schüttelt den lockigen Kopf. Das angebliche Mitgefühl nimmt sie den Leuten hier in der brandenburgischen Kleinstadt nicht ab. Zu viele von ihnen sind vorbeigegangen, an diesem kühlen Frühherbsttag, als sie auf der Straße lag und getreten wurde.

Die Volkshochschule ist ein flacher Barackenbau an einer vielbefahrenen Einfallstraße. Wie an jedem Donnerstag hat Miriame K. auch damals, vor zwei Wochen, den Deutschkurs besucht, in dem sie die einzige Ausländerin ist. "Ich sage immer, wir müssen sehen, daß wir ein bißchen weiterkommen. Aber die Leute im Kurs interessiert das nicht. Keiner von ihnen kann richtig lesen oder schreiben, aber während des Unterrichts quatschen sie nur miteinander."

Als um 16 Uhr der Kurs vorbei ist, will sie wie immer den Bus nach Hause nehmen. Die wöchentliche Viertelstunde Fahrt quer durch den Ort ist die größte Reise, die sie alleine unternimmt. Die Bushaltestelle liegt direkt gegenüber der Volkshochschule. Vor der Pforte der Schule eine Fußgängerampel, diesseits der Straße noch eine Haltestelle, wo an diesem Nachmittag vier oder fünf Menschen auf ihren Bus warten.

Sie steht an der Ampel, als der junge Skinhead sie zum ersten Mal anspricht: "Neger!" Jeden Tag, wenn sie aus dem Haus geht, hört sie dieses Wort - gezischt, gebrüllt, geflüstert, von Frauen in der Kassenschlange im Supermarkt, von Jugendlichen, alten Leuten und Kindern. Miriame K. hat ihre eigene Methode des Umgangs damit gefunden: Sie legt den Kopf ein ganz klein wenig schief, lächelt ein entwaffnendes Lächeln und sagt im freundlichsten Ton: "Ja?" Meistens kommt dann nichts mehr.

Auch an diesem Nachmittag, während sie auf die Ampel wartet, denkt sie, der Fall sei erledigt. Der junge Skin steht noch neben ihr, raucht und wartet offensichtlich ebenfalls auf die Ampel. Er nimmt einen letzten tiefen Zug, tritt die Zigarette aus.

Dann kommt der erste Schlag. Er trifft sie unterm Ohr und wirft sie direkt um. Sie liegt auf dem Asphalt, während der 17jährige mit seinen Springerstiefeln auf sie eintritt. Die Tritte treffen sie am Kopf, an der Hüfte, am Hals, an den Beinen, am Bauch und am Rücken.

Mehrere Minuten lang läßt der Skin nicht von ihr ab. Die Leute an der Bushaltestelle tun unbeteiligt. Ein paarmal kommen Passanten vorbei, die kaum den Kopf verdrehen. Dicht an dicht rollt der Berufsverkehr vorbei, außer wenn die Ampel auf Rot schaltet. Dann bleiben die Autos eine halbe Minute stehen. Sobald sie wieder grünes Licht haben, fahren sie weiter. Ein einziges Mal hupt ein Autofahrer, ob aus Mißfallen oder aus Beifall, weiß sie nicht.

Später kann Miriame K. nicht mehr sagen, wie lange es dauerte, bis der junge Mann genug hatte. Zehn Minuten? Sie schleppt sich die zwanzig Meter ins Volkshochschul-Gebäude zurück, von wo aus sie ihren Ehemann anruft, der sie mit dem Auto abholt.

Sie flüchtet sich in die kleine Wohnung am Stadtrand, die sie mit den beiden Kindern und ihrem Mann teilt. Ende der achtziger Jahre hat sie den Ingenieur aus Westdeutschland kennengelernt, als er Urlaub im Niger machte. Vor fünf Jahren hat er Arbeit im nahen Tagebau gefunden. Fünf Jahre, die sie in der 65-Quadratmeter-Wohnung verbrachte, immer mit dem alltäglichen Rassismus der ostdeutschen Kleinstadt konfrontiert, wenn sie auf die Straße ging. Ingenieursstellen im Tagebau sind selten, wegen der Arbeit des Mannes sitzen sie noch immer hier.

Das jüngere der beiden Kinder, der vierjährige Pascal, ist hier geboren. Im Kindergarten muß er sich jeden Tag wieder fragen lassen, ob er in einer Badewanne mit schmutzigem Wasser gebadet habe. Eines Tages kam er mit verweinten Augen nach Hause: "Mama, warum sagen alle, daß ich ein Neger bin? Ich hab' doch ganz helle Haut."

Der Angriff auf der Straße vor der Volkshochschule war nicht das erste Mal, daß Miriame K. mit den handgreiflicheren Varianten des deutschen Rassismus Bekanntschaft gemacht hat. Vor vier Jahren ist sie schon einmal geschlagen worden - von einer Nachbarin, die sie immer wieder ihre Kinder hüten und bekochen ließ. Eines Tages stand die Frau zeternd und angetrunken vor der Tür: "Du hast Läuse!" Miriame K., die damals noch nicht gut Deutsch sprach, verstand nicht, was das heißen sollte. Sie lachte einfach: "Du hast auch Läuse." Das hätte sie nicht tun sollen. Mit der Faust schlug die Nachbarin sie ins Gesicht.

Seitdem hat die Familie auch in der Nachbarschaft keine Freunde mehr. Der Mann, der eine Afrikanerin geheiratet hat, wird nicht gegrüßt; wenn er wie alle anderen das Rauchverbot im Treppenhaus mißachtet, droht man ihm mit einer Beschwerde bei der Hausverwaltung. Nachts klingeln Nachbarn die Familie aus dem Bett und beschweren sich über angebliches Türenknallen.

Nach dem Überfall müssen Freunde Miriame K. überreden, zur Polizei zu gehen. Zu den Uniformierten hat sie wenig Vertrauen, denn frühere Anzeigen haben nie zu etwas geführt. Als sie von der Nachbarin geschlagen wurde, als sie auf offener Straße angespuckt wurde, nie kam es zu einer Verurteilung. Sie glaubt auch, daß sie den Täter nicht wird identifizieren können - für sie sehen all diese kurzhaarigen deutschen Jugendlichen gleich aus.

Auch diesmal zeigen die Polizisten in der Stadt wenig Interesse. Doch wenige Tage später bekommt die Presse Wind von der Sache, eine übergeordnete Dienststelle schaltet sich ein, und schon nach zwei Tagen hat man den Täter identifiziert. Als wir uns unterhalten, ist der Skin bereits wieder auf freiem Fuß. Alle zehn Minuten klingelt das Telefon. Wenn Miriame K. den Hörer abnimmt, hört sie den anderen Teilnehmer atmen, doch nie sagt er etwas. Der Täter?

Bisher ist sie noch nicht einmal gebeten worden, eine detaillierte Zeugenaussage zu machen. Ob es sie befriedigt, daß der Täter jetzt vor Gericht gestellt wird? "Ach, Sie wissen doch, wie solche Sachen enden: Man wird ihn nach Jugendstrafrecht zu einer Bewährungsstrafe verurteilen. Aber das ist auch egal. Hier gibt's einfach zu viele Jugendliche wie ihn."