Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?

Eike Stedefeldt arbeitet als Journalist in Berlin

Ich bin, wenn auch nicht ganz freiwillig, die Ausnahme von der Regel, daß Schwule einen Flaschenkürbis nicht von einem Fußball unterscheiden können. Schließlich verfloß meine Jugend in Magdeburg. Nicht nur Fußball, Sport allgemein interessierte mich nicht sonderlich, weder mit meinen damals elf Jahren noch später (na gut, Standard- und Eistanz lasse ich bis heute gelten). Aber das durfte niemand wissen, sofern ich nicht Schläge riskieren wollte.

In jenem denkwürdigen Jahr - der 1. FCM wurde, nach vier FDGB-Pokalgewinnen, zum zweiten Mal DDR-Meister, besiegte im Endspiel des Europapokals der Pokalsieger den AC Mailand mit 2:0, und ich durfte täglich auf dem Schulweg den Humpen bewundern, der in ein Schaufenster des nagelneuen Centrum-Warenhauses drapiert worden war - hing notgedrungen auch an meiner Zimmerwand ein Farbposter der Weiß-Blauen aus dem Osten. Ich Dusseltier hatte es für einen in der DDR ziemlich raren Jackenaufnäher mit dem Bildnis David Cassidys eingetauscht; der Popstar - was ich erst viel später erfuhr, ein "verzauberter Prinz" wie ich, aber nicht in zu kurzen braunen Rundstrickhosen, sondern knallengen Jeans steckend -, wirkte in meinen Augen um einiges elektrisierender als Heyne, Steinbach, Mewes oder eben Sparwasser. Deren muskulöse Oberschenkel verletzten mein ästhetisches Empfinden noch weit mehr als ihre doofen Koteletten. Aber die trug ja fast jeder.

Ach so, Sparwasser. Der Mann arbeitete, zumindest offiziell, im selben Betrieb wie mein Vater, und was machte das schon, daß man ihn dort kaum zu Gesicht bekam? Mit dieser Information konnte ich wenigstens bei meinen Klassenkameraden Eindruck schinden. Natürlich mußte ich am Wochenende immer Sport gucken, um am Montag auf dem Schulhof die Ergebnisse herbeten zu können. Das ersparte mir nicht zuletzt den Besuch im Ernst-Grube-Stadion inklusive der Kostümierung mit blau-weißen Wollschals.

Der 22. Juni 1974 war allerdings auch für mich wichtig, nie und nimmer hätte ich dieses Spiel verpaßt. Nicht nur als Magdeburger, sondern als Thälmann-Pionier und junger DDR-Bürger fühlte ich mich äußerst gekränkt durch recht arrogante Äußerungen Sepp Maiers und Gerd Müllers. Man werde die DDR-Mannschaft - in der reichlich Magdeburger dienten - "vernaschen", hatte Maier in einem Interview gesagt, und ich wünschte ihm von Herzen, dies möge seinem Gebiß schlecht bekommen (was dann bei anderer Gelegenheit bezüglich eines Schneidezahns auch eintraf).

Zur Übertragung des Spiels hatte sich auch mein Großvater bei uns eingefunden. Der war schon ein bißchen wirr im Kopf und dazu fast taub, aber an unseren Fernseher ließen sich die brandneuen Kopfhörer meiner Stereoanlage anschließen, womit wir ihn ein wenig ruhigzustellen gedachten. Doch mein Opa kommentierte aufgeregt und mit Donnerstimme jeden Paß, jede Ecke, jeden Freistoß - er meinte wohl, wenn er die Dinger auf hat, könnten wir nichts verstehen. Als dann das Tor fiel, jubelte leider der Opa am heftigsten, sprang aus dem Sessel und führte einen Veitstanz auf, ohne an die teuren Ohrmuscheln zu denken. Er ramponierte sie gründlichst. Vielleicht liegt's ja daran, daß dies das einzige Fußballspiel ist, dessen ich mich bewußt entsinne.