Abkassieren und abräumen

Die Beweise für eine Zusammenarbeit des türkischen Staates mit der Mafia häufen sich. Das Regime reagiert mit Repression

"Samstags-Mütter" heißen sie in der Türkei: Die Angehörigen von "vermißten" Oppositionellen. Fatma Ipek ist eine von ihnen. Seit Mai 1995 sucht sie nach ihren Söhnen Servet und Ikram. In der Nähe ihres Dorfes hatte es Kämpfe zwischen PKK-Guerillas und türkischen Truppen gegeben, zwei Soldaten kamen ums Leben. Für das Militär stand fest, daß alle Dörfer im Umfeld die kurdische Guerilla unterstützen würden.

Auch an Fatma Ipeks Tür wurde geklopft: Erst befahlen sie dem sechzehnjährigen Servet und dann dem zwanzigjährigen Ikram, ihnen zu folgen. Etwas später kamen die Soldaten wieder, diesmal mit Benzinkanistern. Das Dorf wurde niedergebrannt, die Ipeks flohen in die Provinzhauptstadt Diyarbakir. Servet und Ikram tauchten nie wieder auf, niemand will sich nach dieser Nacht daran erinnern, daß sie festgenommen wurden: Weder die Kaserne in Kulp noch der Gouverneur aus Diyarbakir.

Auch Fatma Morsumbüls Sohn Hüseyin (19) wurde nachts im südostanatolischen Bingöl von Soldaten aus dem Haus geholt. Zu einer kurzen Vernehmung, hieß es. Zwei Tage später sagte man Hüseyins Vater auf der Polizeistation, sein Sohn sei geflohen - seitdem blieb Hüseyin verschwunden. Aysel Malka ç (23) verschwand Anfang August 1993 in Istanbul. Die Reporterin der pro-kurdischen Tageszeitung Gündem wurde von Zivilpolizisten auf dem Weg zu einer Recherche verhaftet. Sie gilt ebenfalls als vermißt.

Auch wenn viele der Samstags-Mütter wissen, daß ihre Kinder vermutlich zu den inzwischen Tausenden gehören, die unter Folter, auf der Flucht, bei der Durchsuchung ideologisch "verdächtiger" Wohnungen gestorben sind oder in den Gebieten des Ausnahmezustands Opfer von Bestrafungsaktionen der Armee wurden. Doch solange die Leiche oder das Grab nicht gefunden wird, gibt es nur "Vermißte".

Seit dreieinhalb Jahren versammeln sich die Mütter jeden Samstag vor dem Portal der Eliteschule Galatasaray in der Innenstadt von Istanbul, umringt von Journalisten und mehreren Hundertschaften der Polizei. Nicht selten kam es hier zu dramatischen Szenen, etwa während der Uno-Konferenz zu Siedlungs- und Wohnungsfragen (Habitat II) im Juni 1996. Damals sollte dem internationalen Publikum ein "sauberes" Istanbul ohne lästige Demonstranten vorgeführt werden. Doch die brutale Auflösung der Demonstration erreichte das Gegenteil - die Weltöffentlichkerit protestierte.

Anders als in diesen Tagen: Repression in der Türkei steht zur Zeit international nicht auf der Tagesordnung. Die eigene Presse bereitet den türkischen Sicherheitskräften ohnehin wenig Kopfzerbrechen. Seit fünf Wochen wird der allsamstägliche Sitzstreik handgreiflich aufgelöst, statt der Mütter besetzt ein riesiges Polizeiaufgebot den Platz. Die Frauen versuchen zwar immer wieder den Sitzstreik fortzuführen, aber viele von ihnen tragen inzwischen eine Plastiktüte mit Wäsche und einer Zahnbürste bei sich - für den Fall einer (erneuten) Festnahme.

Ende August wurden über hundert Demonstrantinnen und Mitglieder des örtlichen Menschenrechtsvereins zusammengeschlagen und verhaftet. Dies war der Auftakt des Versuchs, die lästigen Mahner endlich loszuwerden. Die permanenten und illegalen Demonstrationen seien der Anlaß dieser Maßnahmen, behauptete der Gouverneur von Istanbul. Aber zu offensichtlich fiel deren Auftakt auf den Samstag vor dem ersten September, an dem PKK-Führer Abdullah Öcalan einen einseitigen Waffenstillstand der PKK ausgerufen hatte. Anläßlich des Weltfriedenstages sollte eine gegen die anhaltenden Kämpfe zwischen türkischem Militär und kurdischer Guerilla gerichtete Friedenskundgebung im südostanatolischen Diyarbakir stattfinden.

Die Samstags-Mütter wurden bis zum zweiten September in der Anti-Terror-Abteilung des Istanbuler Polizeihauptquartiers festgehalten und der vom türkischen Menschenrechtsverein organisierte "Friedensbus" mit Reiseziel Diyarbakir wurde kurz vor der Abfahrt von Spezialeinheiten gestürmt; 200 Menschenrechtsaktivisten kamen in Haft. Diesmal ging die Rechnung auf: Die internationale Öffentlichkeit blieb still, keine einzige Nachrichtenagentur meldete die Vorgänge.

Diese Ruhe kommt der türkischen Regierung, dem Militär und den Sicherheitskräften entgegen, denn Skandale gab es in den vergangenen Wochen genug. Immer mehr Mafiosi tauchen aus dem Untergrund auf und berichten über ihre Zusammenarbeit mit türkischen Regierungsmitgliedern und hohen Staatsangestellten. Seit der sogenannten Susurluk-Affäre vor zwei Jahren - zur Amtszeit der ehemaligen Ministerpräsidentin Tansu Çiller -, als ein Abgeordneter ihrer Partei, ein ehemaliger Polizeichef und ein international gesuchter Killer und Drogenhändler zusammen in einem mit Waffen vollgestopften Auto verunglückten, sind Machtkämpfe zwischen und in den verschiedenen politischen Fraktionen ausgebrochen.

Und nun auch noch das: Der vergangene Woche in Nizza wegen des Besitzes falscher Papiere zu sechs Monaten Haft verurteilte türkische Mafioso Alaatin Çakici hat der türkischen Presse die Aufzeichnung eines Telefongespräches mit dem inzwischen zurückgetretenen Staatsminister Eyüp Asik übermittelt. In türkischen Nachrichtensendungen konnte man anschließend hören, wie der Mafiosi sich bei Asik darüber beschwerte, "Mesut" (Ministerpräsident Mesut Yilmaz) wolle ihn umbringen lassen und wie der Minister versuchte, Çakici zu beruhigen. Auch behauptete Çakici, mehrere Male mit Yilmaz selbst telefoniert zu haben.

Besonders interessant dabei ist, daß die französische Justiz bei ihrem milden Urteil gegen Çakici berücksichtigt hat, daß dessen auf einen falschen Namen ausgestellter Diplomatenpaß zwar nicht die richtige Identität angebe, formal aber "echt" sei und Çakici quasi als Staatsdiener ausweise. Damit ist Çakici der dritte gesuchte Mafiosi, der mit "echten" gefälschten Papieren gefaßt wurde.

Schon die zur Susurluk-Affäre gebildete parlamentarische Untersuchungskommission war zu dem Ergebnis gekommen, daß Regierungsparteien und Sicherheitskräfte mit der Mafia kooperierten. Sie würden von illegalen Finanzquellen profitieren und gleichzeitig als "Kontraguerilla" operierende Killer Mordanschläge auf Regimegegner im Namen des Anti-Terror-Kampfes ausführen lassen. Der sozialdemokratische Abgeordnete Fikri Saglar äußerte sogar, der Krieg gegen die Kurden werde auch geführt, um die Logistik des Drogen- und Waffenschmuggels über die Türkei organisieren zu können: Die Mafia arbeite - wie das Beispiel Çakici zeige - unter der Obhut des Staates.

Reaktionen aus dem Ausland blieben dazu bislang aus, obwohl der staatlich geförderte Drogen- und Waffenhandel meist in Westeuropa organisiert wird. Nach der Festnahme Çakicis in Nizza wurde Anfang vergangener Woche der ihm nahestehende türkische Mafioso Sedat Sahin in Berlin gefaßt. Aus der deutschen Hauptstadt hatte der inhaftierte Çakici vor drei Wochen noch 20 000 Francs erhalten.

Während die Verbindung des türkischen Staates zur Mafia immer deutlicher wird, versucht die Regierung Yilmaz ihr beschädigtes Image aufzupolieren, indem sie für die Medien des Westens immer neue Erfolgsmeldungen über die Eindämmung des Islamismus durch den "modernen" Staat produziert.

Yilmaz' Strategie ist erfolgreich: Am vergangenen Samstag ging die Polizei erneut gegen die Samstags-Mütter vor: Dabei wurden 30 Frauen von Spezialeinheiten mißhandelt und anschließend in ein Polizei-Gefängnis gebracht. In den Medien wird man nach einem Bericht über den Polizeieinsatz lange suchen müssen.