Maler ohne Hände

Der Höhepunkt der dänischen Literatur: Über Jens Peter Jacobsens Roman "Niels Lyhne".

Am Ende von Friedrich Nietzsches wichtigstem Text findet sich die Feststellung: "Es giebt Zeitalter, in denen der vernünftige Mensch und der intuitive Mensch neben einander stehen, der eine in Angst vor der Intuition, der andere mit Hohn über die Abstraction; der letztere eben so unvernünftig, als der erste unkünstlerisch ist." ("Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne", aus dem Nachlaß des Jahres 1872)

Die Scheidung der Typen ist wie ihr Nebeneinander ein Effekt des Kapitalismus und der von ihm dirigierten Reflexion. Das gedankliche Problem aber, auf dem diese Zweiheit ruht, ist ein sprachphilosophisches: Während der Vernünftige sich an das "ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe" klammert, sind sie dem Intuitiven nur "Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke". Das Denken des Vernünftigen vollzieht sich also begrifflich, das des Intuitiven rhetorisch. Dem Unglück begegnet das begriffliche Bewußtsein in der "Maske" des Stoizismus, während das rhetorische ihm schutzlos ausgesetzt ist. Was aber, wenn die Begriffe zerbrechen?

In der modernen Literatur findet man das Problem einmal nach dieser, einmal nach jener Seite hin aufgelöst, den Widerspruch einmal künstlerisch-intuitiv, einmal stoisch-begrifflich beruhigt. Wenige halten die Schwierigkeit als solche fest und beschreiben das Nebeneinander als einen Zustand der unmöglichen Wahl zwischen zwei unmöglichen Strebungen.

Jens Peter Jacobsens Roman "Niels Lyhne" (1874-1880) gestaltet die Unlust zu wählen. Sein Protagonist hält die Mitte zwischen rhetorischer Intuition und begrifflicher Vernünftigkeit. Er ist zu reich beschenkt von beidem; das macht ihn zu einer unbestimmten und unbestimmbaren Größe, das erzeugt seine erotische (auf Bisexualität wird angespielt), emotionale und gedankliche Unstetigkeit. Niels Lyhne ist ein Dichter, der nicht dichtet.

Von dem "praktischen Geschlecht", von den Bauern, unter denen er aufwächst, wird berichtet, daß man "die Rippen der Grammatik durch ihre Formulierungen durchfühlen konnte". Das meint gute, unprätentiöse Einfachheit und biedere Beschränktheit gleichermaßen. Während der Vater die "erdgebundenen Gedanken und traumlosen Erklärungen" der Umgebung angenommen hat, ist das Reich der Mutter nicht von dieser Welt. Nicht nur erheben sich ihre Gedanken über die Erde und die Arbeit, sie reißen sie in einen fortgesetzten Flug über die Dinge, in Phantasterei und Phantome. Darüber vergißt sie, daß "selbst die schönsten Träume, selbst die tiefsten Sehnsüchte den menschlichen Geist nicht um einen einzigen Zoll wachsen lassen". Währenddessen ist das Mißtrauen des Vaters gegenüber dem, "was er Theorie nannte", so groß, daß er sich lieber dem Allerkonventionellsten, den "durch lange Bewährung ehrwürdig gewordenen Erfahrungsregeln" anbequemt; und darüber "ermüdet" seine Intelligenz.

Zur Anspruchslosigkeit muß der Vater erst regredieren. Den Verlust seines reicheren Ich betrauert er in "vegetativer Benommenheit". Dagegen ist das Denken der Mutter infantil in seiner Unfähigkeit, das Widerständige und Widerstrebende zu integrieren. Als sie ins Land ihrer Träume reisen kann, stirbt sie vor Enttäuschung.

Diese beiden "freundlichen Mächte" ringen um Niels Lyhnes Seele, die sich mal nach dem Vater, mal nach der Mutter ausrichtet. Dem Sohn erst gelingt es, die gedanklichen Möglichkeiten, die in beiden elterlichen Systemen liegen, durchzuspielen, eben deshalb aber bleibt er das "Kind einer instinktiven Unlust, etwas zu wagen". Er leidet an der Kierkegaardschen Krankheit; das Übermaß an Simulation lähmt ihn: "Wenn er sich vorstellte, daß er Frau Boye seine Liebe gestand - und er mußte sich nun einmal alles ausdenken -, dann sah er sich so deutlich in dieser Situation, seine ganze Haltung, jede Bewegung, seine ganze Person, von vorn, von der Seite und auch von hinten, sah sich unsicher gemacht vom Fieber des Handelns, das ihn stets lähmte und ihm alle Geistesgegenwart nahm, so daß er dastand und eine Antwort erwartete wie einen Schlag, der ihn in die Knie zwang, anstatt daß er ihn auffing wie einen Federball, der auf wer weiß wie viele Arten zurückgeworfen werden und wer weiß wie oft wiedergeflogen kommen könnte." (zit. nach der Übertragung von A.O. Schwede, Rostock 1971)

Nicht nur der "etwas krankhafte Drang, sich selbst wahrzunehmen" - also mütterliches Erbe -, sondern auch die "vegetative Benommenheit" des Vaters machten sich bemerkbar. Lyhne verpaßt die Bälle, weil er sich zu sehr darauf konzentriert, sie zu treffen, und weil er sich nicht darauf vorbereitet zurückzuschlagen. Als er aber ruhiger und trotziger geworden ist, bemerkt er, daß er den Schlägen seines Gegenspielers gar nicht parieren kann. Niels Lyhnes Gegenspieler in diesem Roman, dem der Autor den Arbeitstitel "Atheisten" gegeben hatte, ist Gott.

Das ungleiche Match zwischen Lyhne und Gott bildet den Rahmen und bedarf daher keiner besonderen theologischen oder philosophischen Erörterung. Gott ist die "siegende Kraft", die "Übermacht" und die "Gewalt". Gegen ihn nimmt Niels Lyhne Partei, zunächst aus einem mütterlichen Gerechtigkeitsbedürfnis heraus, am Ende aus dem erklärten Willen, "das Leben zu tragen, wie es war", also wie der Vater zu leben, ohne sich wie der Vater zu unterwerfen.

Gott ist natürlich auch der Erzähler, der die Niederlagen seiner Figur sowohl mit subtiler Einfühlung, ja Mitleid als auch mit Spott und unerbittlicher Härte begleitet. Der Erzähler ist der Figur Vater und Mutter zugleich.

Auf in sich gespannte, nervöse Perioden, auf dramatisch sich entwickelnde Metaphorik und reine Gedanken- und Bildermusik folgen kurze, konstatierende Propositionen. Dieser Dialog zwischen mütterlichen und väterlichen Einsätzen, zwischen irritierender und verführender Rhetorik und grausam-schroffem, abtuendem Kommentar bildet das eigentliche Geschehen in "Niels Lyhne", wenn man so will: die Handlung. Das Ringen der freundlichen und der unfreundlichen Mächte um Niels spiegelt sich in dieser Kontrapunktik. Das heißt, Gott, der Erzähler, spaltet sich selbst in eine mütterliche und eine väterliche, in eine verführende und eine strafende Instanz.

Der Leser gewöhnt sich nie an diese Wechsel. Wohl traut er nach einigen der brutalen Sätze den dahinschießenden Fluten, dem Wirbel der Bilder nicht mehr ganz. Dann läßt er sich aber doch hinreißen - um im nächsten Absatz eine Wahrheit mitten ins Gesicht geschlagen zu bekommen.

"Sie hatte die schwarzen, strahlenden Augen der Bliders mit den feinen schnurgeraden Brauen (Ö)", beginnt der Erzähler und scheint ein schmeichelhaftes Gemälde hinzuwerfen. Dann folgt: "Ihre Stimme war jedoch matt und tonlos." Nach einer bilderreichen Schilderung von Niels' beginnendem Kampf gegen Gott heißt es trocken: "Es wurde still in ihm." Nachdem die Annäherung zwischen Fennimore und Niels' Freund Erik impressionistisch zart angedeutet wurde: "Drei Jahre sind verstrichen, Erik und Fennimore sind seit zwei Jahren verheiratet und bewohnen ein kleines Landhaus draußen bei Mariagerfjord."

Durch diese harten Schnitte ist auch das ausgespart, was andere Romanciers für das Wesentliche halten: das Ereignis. In Jacobsens Texten bahnt sich das Ereignis an, man ahnt, wie es naht, man erkennt den Schatten, den es auf die Protagonisten wirft und erfährt von den Empfindungen, die all das in ihnen auslöst. Dann folgt schroff die vollendete Wirklichkeit; sie liegt, indem sie konstatiert wird, schon zurück, sie ist bereits überwunden. Der Schmerz, den sie erzeugt, wird nicht dargestellt, sondern dem Leser durch den abrupten Wechsel der Tonart beigebracht. Das Geschehen selbst bleibt vornehm ausgespart, es ist kein Gegenstand der Literatur.

Gegenstand der Literatur ist Sprache. Selten setzt Jacobsen sein Kontrastverfahren drastischer ein als in der Verabschiedung Niels' von seiner ersten Geliebten, Tema Boye. Sie hat, nach der unbürgerlichen Affäre mit Niels, in eine sehr bürgerliche Ehe eingewilligt. Als er von einer Reise, während der er seine Mutter zu Grabe tragen mußte, zurückkehrt, eröffnet sie ihm ihre Verlobung. Ein halb komisches, halb trauriges Ballett von Annäherung und Zurückweichen beginnt. Er beginnt, "ihren Stuhl zu wiegen": "Es war wie eine lange Umarmung, als ließe sie sich in seine offenen Arme gleiten, wenn der Stuhl zurückschwang, und wenn er nach vorn schaukelte, so daß ihre Füße den Boden berührten, lag in dem leisen Druck des Bodens gegen den Fuß etwas von ihm."

Sie küssen sich und umzärteln einander; die Situation bleibt unbestimmt, Entscheidungen sind suspendiert. In diesem Augenblick sind von der Straße "stimmungslose Plauderstimmen" zu hören: "All diese Prosa drang zu ihnen herein und machte es noch schöner, so dazustehen, Brust an Brust, traulich eingehüllt von dem weichen, gedämpften Licht." Die von der Straße kommende Allerweltsprosa erst macht die Entrücktheit der beiden spürbar, eine Entrücktheit vor allem der Sprache: "(Ö) es soll immer Sonne um dich sein und Rosennächte - eine Rosennacht Ö" Sie will ihn nicht gehen lassen, sie duldet aber auch seine Berührungen nicht mehr.

Schon deutet sich das Ende an: "'Exit Niels Lyhne', sagte er, als er die Entreetür hinter sich ins Schloß fallen hörte." Frau Boye "hatte sich vor den Spiegel gestellt, beide Hände auf die Konsole gestützt, und weinte, daß die Tränen von ihren Wangen in das rosarote Innere einer großen Meermuschel tropften". Die Exzentrik und Überspanntheit des Zusammentreffens weicht sehr langsam und mündet in den einen Satz: "Sie hatte Szenen schon gern."

Die Exponiertheit der beiden - hinter geöffneten Fenstern, hoch über dem Publikum auf der Straße - und ihre hochgetriebene metaphorische Sprache hat an das Spiel von Schauspielern erinnert, Niels' "Exit" führte die Möglichkeit der Inszeniertheit schon ein, aber erst mit dem ebenso banalen wie zynischen "Sie hatte Szenen schon gern" wird der Zauber weggewischt. Sie öffnet die Jalousien, "und es war auf einmal ein ganz anderes Zimmer". Erst jetzt hat sie ihn verlassen. Exit Frau Boye.

Mit dem Fortschreiten des Romans nimmt sich der Erzähler immer seltener die Zeit, solche Bühnenillusionen aufzubauen. In den Schlußpassagen endlich wird die Figur mit wuchtigen, wohlgezielten Hieben zertrümmert.

Man könnte glauben, daß damit das Begriffliche über das Intuitive obsiegt. Aber selbst das Zerstörungswerk ist rhetorisch geleitet: "In schwarzen Schwärmen, wie Raben, kamen sie von überall her herangeflogen, die dunklen Gedanken, angelockt von der Leiche ihres Glücks, und sie hackten auf sie ein, Schnabel an Schnabel, während die Lebenswärme noch in ihr war. Und sie zerfetzten und zerfledderten sie und machten sie abstoßend und unkenntlich, jeder Zug wurde entstellt und verzerrt, bis alles nur noch ein Kadaver von Ekel und Schrecken war." Die Raben sind nicht Bilder für die "schwarzen Gedanken", sie überdecken den Begriff und setzen sich an seine Stelle. Die Metaphern stoßen wie Raben auf den Kadaver des Begriffs herab.

Darin schon deutet sich Nietzsches Einsicht an, daß es "eigentliche" Begriffe nicht gebe, sondern Sprache, Referenz, Wahrheit ein "bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen" seien. Nietzsche: "(Ö) denn es ist nicht wahr, dass das Wesen der Dinge in der empirischen Welt erscheint. Ein Maler, dem die Hände fehlen und der durch Gesang das ihm vorschwebende Bild ausdrücken wollte, wird immer noch mehr bei dieser Vertauschung der Sphären verrathen, als die empirische Welt vom Wesen der Dinge verräth". Derselbe Vergleich, dasselbe Sprachbild ist bei Jacobsen pessimistisch gewendet: "Es war zwar gut, daß er Talent besaß, nur konnte er es nicht anwenden, sondern ging umher und kam sich vor wie ein Maler ohne Hände." Er singt nicht, er dichtet nicht, auf bittere Weise geht seine Hoffnung in Erfüllung, "daß all dies ihn erdichtete". Niels Lyhne ist ein Dichter, der erdichtet wird.

Sein Unglück ist nicht allein, sich einen Begriff von allem machen zu müssen und begriffen zu werden, sondern zur gleichen Zeit zu ahnen, daß Begriffe vom "Wesen der Dinge", vom "Leben" nichts verraten. Das "Leben" ist, sofern man von ihm sprechen kann, bloß ein sprachliches Epiphänomen; die Sprache ist der Gott, gegen den Niels Lyhne auftritt und dem er unterliegt. Seine Niederlage aber ist zugleich ein Sieg der Literatur.

Da die Hinstorff-Ausgaben ("Das erzählerische Werk" bzw. "Niels Lyhne") zur Zeit nicht mehr lieferbar sind, muß sich der Leser begnügen mit der Übersetzung von Anke Mann: Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne. Insel Taschenbuch, Frankfurt/M., 291 S., DM 17,80