L' étranger

Jean Sénac gehört zu den ersten Opfern des Terrors in Algerien. Vor 25 Jahren wurde der Schriftsteller ermordet

Vor 25 Jahren, im September 1973, wurde in Algier die Leiche von Jean Sénac aufgefunden. Sénac, den der algerische Journalist Abdelhafid Adnani heute als "einen der größten Dichter, den Algerien, den der gesamte Maghreb hervorgebracht hat", bezeichnet, war in dem dunklen Keller, den er in der Rue Elisée-Reclus bewohnt hatte, erstochen worden. Der oder die Mörder Sénacs wurden nie gefaßt, aber alles spricht dafür, daß der Autor zu den ersten Opfern jener islamisch-fundamentalistischen Gewalt wurde, die bis heute Algerien erschüttert.

Jean Sénac war im Jahr 1926 in Beni-Saf, in der Region um die westalgerische Küstenstadt Oran, zur Welt gekommen. Er wurde als Sohn einer spanischen Mutter und eines Vaters unbekannter Herkunft geboren. In jener Zeit kamen nicht nur französische Siedler, sondern Migranten aus dem gesamten südeuropäischen Mittelmeerraum,

um sich in Algerien eine Existenz aufzubauen. Die Brutalität eines Großteils der Siedler, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts rund eine Million zählten und die acht Millionen Muslime als "Bürger zweiter Klasse" beherrschten, ließ die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg eskalieren.

Im Jahr 1954 schließlich trat die Unabhängigkeitsbewegung FLN in den bewaffneten Kampf. Das bewaffnete Engagement mitkämpfender Frauen, die auf diese Weise radikal aus ihrer traditionellen Rolle ausbrachen, bildete ebenso eine Facette des Kampfes wie die Aktionen jener, die Alkohol- und Tabakkonsumenten Nase und Lippen abschnitten, weil der Prophet diese Genußmittel verboten habe. 1962 endete der achtjährige Kolonialkrieg, der zwischen einer und zwei Millionen Tote auf algerischer Seite, rund 30 000 auf französischer Seite gefordert hatte. Der Großteil der französischen Siedler mußte das Land in Richtung Frankreich verlassen.

Jean Sénac, der aktiv am Unabhängigkeitskampf teilgenommen hatte und zu seinen führenden Köpfen gezählt wird, entschied sich dafür, in Algerien zu bleiben. Er, den nichts mit der Metropole verband, sah keinen Grund, nach Frankreich zu gehen. Sénac, in seinen Ideen stark von Albert Camus beeinflußt, machte sich für eine kulturelle Emanzipation des Landes stark, für das Recht auf eine eigenständige Entwicklung nach der Trennung von Frankreich.

Sein wichtigstes Werk trägt denn auch den Titel "Matinales de mon peuple" ("Morgenstunden meines Volkes"). "Mon peuple" interpretierte Sénac freilich nicht als eine durch Abstammung definierte - mit dieser Auslegung hätte er sich schließlich selbst ausgeschlossen - , sondern als eine universalistischen Prinzipien verbundene Gemeinschaft. Zu Beginn der algerischen Unabhängigkeit paßte diese Haltung Sénacs ins politische Konzept: Linke aller Couleur und Nationen, auch aus Frankreich, hatten den Befreiungskampf unterstützt, Trotzkisten aller Länder reisten in das neue revolutionäre Mekka, und von Kuba aus blickte man ebenfalls interessiert nach Algier.

Die Machtkämpfe zwischen verschiedenen Fraktionen der zur Regierungs- und bald zur Staatspartei erstarrten Befreiungsbewegung FLN, verstand Sénac - wie viele andere Intellektuelle auch - lediglich als Anfangsschwierigkeiten. Auch deshalb war es für ihn, den ausgemachten Optimisten, keine Frage, daß er in diesem Land der "Disteln und spitzen Steine" bleiben wird.

Jean Sénac wurde von der ersten durch Ahmed Ben Bella geführten Regierung nach der Unabhängigkeit zum Berater des Erziehungsministers ernannt. Im selben Jahr gründete er zusammen mit Mouloud Mammeri die Union des ƒcrivains Algériens (Union der algerischen Schriftsteller).

Populär wurde Sénac vor allem durch seine Literatursendung, die er seit 1963 für Radio Alger gestaltete. Es sei, urteilte die regierungsoffizielle Zeitung

El Moudjahid ("Der Kämpfer"), die "beste Sendung des gesamten Radioprogramms", und es sei "die einzige, die dem Fernsehen Konkurrenz bieten kann".

Doch die politischen und künstlerischen Spielräume, innerhalb derer sich Sénac bewegen konnte, wurden enger, spätestens 1965 mit dem Militärputsch des künftigen Präsidenten Houari Boumedienne, als sich die konservativen und reaktionären Kräfte innerhalb des zunächst heterogenen FLN-Bündnisses durchzusetzen begannen. Reichte das politische Spektrum ursprünglich von extrem rechts bis radikal links, formierte sich nun die fundamentalistische Front. Diese forcierte den Kampf um eine mythisch hergeleitete Identität des Volkes, die die Unabhängigkeit des jungen Staates legitimieren helfen sollte. Als "kulturfremd" galten insbesondere der Atheismus, die Frauenemanzipation und die Homosexualiät, bald auch die Idee der Demokratie.

Jean Sénac, der schwul war, sich zum Christentum bekannte, seine Werke in französischer Sprache verfaßte und ein in den Augen der Militärbürokratie sowie der Fundamentalisten dekadentes Leben führte - bereits der Umstand, daß der Autor es vorzog, in einem Kellergeschoß zu leben, erregte Verdacht -, entsprach dem so geschaffenen Feindbild des "Fremden" zu sehr, als daß der populäre Künstler hätte unbehelligt leben können.

Die algerische Staatsbürgerschaft blieb ihm bis zu seinem Lebensende verwehrt, weil er sich dem geforderten Beantragungs- und Rechtfertigungprozedere zur Einbürgerung nicht unterziehen wollte. Sénac vertrat die Auffassung, er habe das Recht auf Zugehörigkeit zur algerischen Nation "menschlich, politisch und juristisch" längst erworben.

Im Jahr 1967 wurde Sénac aus seinem Amt als Präsident des Schriftstellerverbands gedrängt, 1972 fiel seine Radiosendung der Zensur zum Opfer. Damit verstummte einer der wichtigsten Autoren französischer Sprache innerhalb des nordafrikanischen Raums. Nur ein Jahr später, 1973, fand man Sénac tot in seiner Kellerwohnung.

Über Leben und Werk von Jean Sénac ist im Verlag Editions du Quai, Paris, das Buch "Assassinat d'un poète" von J.-P. Péroncel erschienen