Soziologen und Drogenexperten Günter Amendt

Erektion ohne Begehren

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Die Gesellschaft wird immer schöner, schneller, schlanker. Früher sah man die Young Urban Professionals durch den Park joggen oder in Studios beim Aerobic. Jetzt schlucken sie einfach eine Pille. Kann man von einem Trend sprechen?

Wer durch den Park rennt oder seinen Body im Fitness-Studio formt, ist immerhin noch bereit, die Folgen eines übermäßigen Konsums von Nahrungsmitteln körperlich abzuarbeiten. Die Betonung liegt auf arbeiten. Pillen sind bequemer. Bereits in den fünfziger Jahren wurden Schlankheitsmittel auf Amphetaminbasis als Hilfsmittel beim Kampf gegen überschüssige Pfunde eingesetzt. Das war der Beginn der sogenannten Drogenwelle.

Welche Körperbilder reproduzieren oder generieren die Lifestyle-Pillen?

Es ist das von der Werbung vorgegebene und in den Medien permanent reproduzierte Körperideal. Schlank steht für Selbstkontrolle, Selbstdisziplin, Leistungsbereitschaft und Erfolgsorientiertheit. Dick steht für Hemmungslosigkeit, Kontrollverlust und Gleichgültigkeit gegen sich selbst.

Lifestyle-Pillen sind Folge eines neuen Körperkults.

In der Raver-Szene, die, wie wohl keine Jugendszene vor ihr, gesellschaftliche Normen verinnerlicht hat, treiben viele Jugendliche das Schlankheitsideal auf die Spitze. Manche Raverin und mancher Raver bewegt sich am Rande der Magersucht. Neu dabei ist, daß immer häufiger auch Jungen magersüchtig werden. Ganz allgemein läßt sich sagen, daß die Ernährungsgewohnheiten vieler Jugendlicher unausgewogen und riskant sind. Fast-food mit einem hohen Anteil an tierischen Fetten und Zucker ist bei Jugendlichen äußerst beliebt. Zucker ist Einstiegsdroge Nummer eins. Interessant ist, daß immer mehr Jugendliche in den Neuen Bundesländern, was Übergewicht betrifft, das Niveau ihrer Altersgruppe in den alten Bundesländern erreicht haben.

Sind Viagra und die Fettweg-Pille Medikamente, oder muß man sie nicht eher als Drogen bezeichnen?

Die Pharmaindustrie nennt diesen Teil ihrer Produktpalette "Lifestyle-Segment". Ob Droge oder Medikament ist eine Definitionsfrage. Sicher ist, daß einige dieser Produkte süchtig machen - insoweit sind es Drogen. Sicher ist aber auch, daß all diese Produkte Nebenwirkungen haben - insoweit sind es Medikamente. Es gibt kein Medikament ohne Nebenwirkungen. Bisher wurden allein in den USA 70 Viagra-bedingte Todesfälle bekannt. Das ist eine Menge bei einem gerade erst eingeführten Medikament. Über die Pharmakologie der neuen Fettweg-Pille weiß ich zu wenig, um ihr Gefahrenpotential einschätzen zu können. Ich garantiere jedoch, daß auch dieses Mittel erhebliche unerwünschte Nebenwirkungen zeigen wird.

Die leistungsfördernden Drogen der Techno-Szene sind das Bindeglied zwischen Rausch- und Lifestyle-Mittel?

Ecstasy war bei Jugendlichen so etwas wie der Türöffner für die neuen Lifestyle-Drogen. Bei Erwachsenen war es Prozac.

Ebenso wie jene Drogen werden Viagra und Fettweg-Pille nicht aus gesundheitlichen Gründen geschluckt.

Ganz so ist es nicht. Es gibt sehr wohl auch eine medizinische Indikation für ein Potenzmittel wie Viagra. Im übrigen handelt es sich hier um ein unausgereiftes Produkt zur Herstellung bzw. Wiederherstellung der Erektionsfähigkeit. Das ist ein quasi-technischer Vorgang. Aber was soll eine Erektion ohne Begehren? Deshalb arbeitet die Pharmaindustrie an der Weiterentwicklung von Viagra. Das neue Medikament wird das alte Viagra mit einem Endorphinderivat kombinieren, um nicht nur einen steifen Schwanz, sondern auch die dazugehörende Geilheit zu garantieren. Nur so macht das ganze überhaupt einen Sinn; im Sinne einer chemisch erzeugten Sinnlichkeit. In zwei bis drei Jahren dürfte Viagra 2 auf dem Pharmamarkt angeboten werden.

Geht der Trend von der reinen Leistungsförderung hin zur Rund-um-happy-Pille?

Es geht um Alltagsdoping in der Arbeit wie in der Freizeit. Spaß als Programm ist als Freizeit getarnte Arbeit.

Mit dem Abbau des Gesundheitssystems wird die Zahnlücke wieder zum weit sichtbaren Armutszeugnis. Gleichzeitig gibt es immer mehr Mittelchen zur ästhetischen Korrektur. Unterstützen Lifestyle-Medikamente die Herausbildung einer Elitemedizin?

Wer mehr hat, kann sich mehr leisten. Das ist eine Banalität. Ich würde nicht von Elitemedizin sprechen. Das ist schlicht Klassenmedizin. Wer gut versichert ist, erhält auch mehr Leistung. Gut versichert sind die, die mehr haben. Die Frage ist doch lediglich: Werden die Krankenkassen das neue Lifestyle-Segment der Pharmaindustrie in ihren Leistungskatalog aufnehmen? Das ist allerdings eine rhetorische Frage, denn das Krankenversicherungssystem kann diese Leistung schlicht nicht finanzieren. Und es sollte sie auch nicht finanzieren.

Mein Bedauern gegenüber denen, die sich diese Pillen mit oft fragwürdigen Wirkungen und Nebenwirkungen nicht leisten können, hält sich in Grenzen. Ohne diese Pillen geht es ihnen nicht schlechter.