Gefahrenbereich Ahornstraße

Weil er öffentlich über die polizeiliche Aggressivität im Stadtteil gesprochen hat, wurde der Leiter eines Frankfurter Jugendclubs entlassen

Der Ruf einer Multikulti-Hauptstadt, den der jahrelange Einfluß grüner Stadtpolitiker Frankfurt am Main beschert hat, kann nicht darüber hinwegtäuschen: An den Rändern der Rhein-Main-Metropole gärt es immer noch. Stadtpolitiker, Sozialarbeiter und Polizisten sind sich einig: Im Gallus, in Griesheim und im Ostend bleiben die die Probleme Diskriminierung, Armut und Perspektivlosigkeit.

Wer öffentlich darüber redet, kann aber Ärger bekommen. Das mußte kürzlich der Leiter des Jugendclubs in Griesheim, Wolf Wetzel, erfahren. Nachdem Wetzel wiederholt die Sozial- und Jugendpolitik der Stadt kritisiert hatte, wurde er fristlos entlassen. Nun werden die Gerichte über die fragwürdige Kündigung entscheiden müssen.

Begonnen hatte alles mit einem Polizeieinsatz: Am 8.August 1997 schob der 31jährige Kamusch A. ein Schrottauto auf die Griesheimer Ahornstraße und zündete es an. Er protestierte damit gegen Mißhandlung und Festnahme seines jüngeren Bruders, Hakan A., den die Polizei wegen des Verdachts auf Diebstahl und Hehlerei verhaftet hatte.

Daraufhin rückte eine Hundertschaft der Polizei und ein Wasserwerfer an. Kamusch A. wurde vorübergehend festgenommen, ebenso drei Anwohner, die schlichtend eingreifen wollten. Jugendliche berichteten, die Beamten hätten ihnen entsicherte MPs vor den Bauch gehalten. Auch die Leiterin der Kindertagesstätte, Christa Vogt, war schokkiert: "Die 'Mutter der Ahornstraße'," so wird Vogt in der Lokalpresse zitiert, "lobte dagegen die Anwohner: 'Keiner hat gepöbelt oder die Polizei behindert. Es war nicht wie früher.'"

Früher, das ist gar nicht so lange her. Als "Frankfurter Bronx" ist der Stadtteil 1993 bundesweit in die Schlagzeilen geraten. Damals erlag hier der 19jährige Kai-Uwe Gärtner seinen Schußverletzungen. Sein Tod wurde in den Zusammenhang "rivalisierender Jugendbanden" gebracht. In der Folge avancierte die Straße zum sicherheitspolitischen Präzedenzfall der Stadt. Die Polizei bildete nach Gärtners Tod eine Sondereinheit, die "Arbeitsgruppe Griesheim", und filterte schnell 135 sogenannte Intensivtäter aus. Das "Sicherheitskonzept" war denkbar einfach: permanente und unverdeckte Präsenz. In der Regel ermittelten die Beamten aber nur unspektakuläre Fälle von Armutskriminalität.

Die Polizei hingegen begann bereits wenige Monate nach der Einrichtung der Sonderkommission, an ihrer Erfolgsgeschichte zu schreiben. Die bei der intensiven Behandlung gewonnenen "guten Personenkenntnisse einerseits und die Erstellung einer Farblichtbildvorzeigekartei andererseits haben manchen Rechtsbrecher aus seiner Anonymität hervorgeholt", resümierte Behördensprecher Reinstädt Ende 1993. Autoritätspersonen wurden als Ansprechpartner und Schlichter eingesetzt. Einer von ihnen war Kamusch A. Er, "der Bürgermeister", firmierte je nach Opportunität als Chef einer kriminellen Vereinigung oder deren resozialisiertes Gegenteil: eine Mischung aus Krankenschwester, Klempner und Privat-Cop.

Nach dem Tod Gärtners mauserte sich die Ahornstraße also in der Öffentlichkeit langsam zu einem reputierlichen Objekt. Die Hausfassaden wurden gestrichen, eine Grillstelle eingerichtet, der Müll weggeräumt. Sozialdezernent Martin Berg (SPD) und Frankfurts damaliger rot-grüner Oberbürgermeister Andreas von Schoeler gaben sich vor laufenden Kameras die Klinke in die Hand. Der Spiegel pries "die Rettung der Ahornstraße" als Modellfall für die Brauchbarkeit der Broken-Windows-Theorie. "So könnte es gehen: mit Sozialarbeit und polizeilicher Härte zugleich", hieß es in einer Story mit dem Titel "Aufräumen wie in New York".

Dabei zählte der Jugendclub in der benachbarten Froschhäuserstraße weiterhin zu den wenigen Freizeit-Möglichkeiten für Heranwachsende der Gegend. 1990 hatte der evangelische Verein für Jugendsozialarbeit dessen Trägerschaft übernommen. 1993 trat Wetzel die Stelle eines pädagogischen Mitarbeiters an. Ein Jahr später wurde er Leiter des Clubs. Ein wenig begehrter Job: Die beruflichen Perspektiven der hauptsächlich männlichen Besucher sind schlecht, viele sind arbeitslos. Sie berichten von polizeilichen Übergriffen, Mißhandlungen bei denen sie das Gebiß oder zumindest Teile davon einbüßten.

Daß es immer wieder zu solchen rassistisch motivierten Übergriffen kommt, wird heute selbst von staatlichen Behörden kaum noch bestritten. Auch Claudia Ringel hört öfters davon. Sie ist Jugendkoordinatorin der Frankfurter Polizei. Die Beamtin im Range einer Kriminaloberkommisarin versteht es als ihre Aufgabe, zwischen Polizei, jugendlichen Delinquenten und sozialen Einrichtungen zu vermitteln. Sie spricht von Prävention und "Vernetzung" im Stadtteil: "Wir müssen versuchen, aus dieser Anonymität von Straftaten herauszukommen." Daß im August 1997 gleich eine Hundertschaft wegen einer unbewaffneten Person, "dem Bürgermeister", ausrückte, hält sie auch Monate später noch für berechtigt. Die Situation sei schließlich unübersichtlich gewesen. Darauf angesprochen, daß Kamusch A. wegen der seiner Meinung nach besonders erniedrigenden Vorgehensweise der Beamten bei der Festnahme seines Bruders so reagierte, blockt Ringel barsch ab: Die Jugendlichen sähen das anders.

Tun sie das? Wetzel faßt zusammen, was er von den Jugendlichen zu hören bekam - und was ihn dann seinen Job kosten sollte. Zum Beispiel, "daß es ganz und gar nicht hinzunehmen ist, wenn ein bereits am Boden gefesselter Jugendlicher mit den Handschellen auf dem Rücken hochgerissen wird, daß die Schultergelenke auszukugeln drohen." Oder, daß Zeuginnen "von Zivilbeamten mit den Worten bedroht werden: 'Hau ab hier, sonst kriegst du was in die Fresse'".

Polizeisprecher Peter Öhm versuchte die Ereignisse auf "die Fehlleistung eines Einzelnen" herunterzuspielen. Und da sollte sich auch ein "Agitator der sozialen Arbeit", wie Abteilungsleiter Sehnert vom städtischen Jugendamt den Clubleiter nennt, etwas zurücknehmen: In einem Schreiben an den Arbeitgeber beschwerte er sich über das Verhalten Wetzels. Dieser habe behauptet, daß sich die sozialen Rahmenbedingungen für viele Jugendliche weiterhin verschlechtert hätten, auch im rot-grün regierten Hessen und in Frankfurt. Solche öffentlichen Äußerungen aus dem Munde des Bediensteten einer sozialen Einrichtung hält Sehnert "nicht für sinnvoll". Am 6. April 1998 schließlich flatterte Wetzel die fristlose Kündigung ins Haus. Zuvor hatte er abwechselnd Abmahnungen, Suspendierungen oder Kündigungen erhalten, die dann wieder aufgehoben wurden.

Auf Jugendkoordinatorin Ringel dürfte nun viel Arbeit zukommen. In einer Fernsehsendung des Hessischen Rundfunks sagte Wetzel über die ihm fünf Jahre lang anvertrauten Jugendlichen: "Was sie machen, ist eigentlich nichts anderes als das, was sie in der Erwachsenenwelt sehen, daß nämlich sofort zugeschlagen wird."

Auch zur aktuellen Auseinandersetzung nahm er Stellung: "Wir haben zum Beispiel als Jugendclub Griesheim einen Polizeieinsatz in der Ahornstraße kritisiert. Das Ergebnis war, daß ich als Hausleiter suspendiert wurde, daß eine fristlose Kündigung gegen mich eingeleitet wurde und daß ich seit sechs Monaten diese Auseinandersetzung führe, gerichtlich, eben nicht inhaltlich, nicht darum, welche Gewalt erfahren Jugendliche, eine, die sie auch reproduzieren, und das ist eine Situation, wo institutionelle Gewalt überhaupt nicht thematisiert werden darf."

Fast einen Monat später tauchte dieser Redebeitrag wörtlich in der Kündigungsbegründung auf. Warum soll die Öffentlichkeit von solchen Auseinandersetzungen nichts erfahren? Jugendkoordinatorin Ringel hatte auf eine solche Nachfrage bereits vorab mit der entsprechenden Gegenfrage gekontert: "Warum muß denn gleich an die große Glocke gehängt werden, daß dies und jenes alles in dieser Form stattgefunden hat?"