Die Qualen des Banalen

Die Zeitschrift 'Merkur' bietet Schutz vor den Übergriffen des Sozialen

Ihr "nonkonformistisches Ja zur Wiedervereinigung" haben sie schon vor acht Jahren und seitdem immer wieder formuliert, nun aber, "nach fast fünfzigjähriger Wohnungsnahme" in München, entschlossen sich Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel, die Herausgeber des Merkur, "den notwendigen Gegenpol zum Zentrifugalen der Provinzen" zu stärken und "ins unübersichtlich Anstrengende der einstigen preußischen Residenz, dann deutschen Hauptstadt" umzuziehen. Denn "die Zeitschrift war ja immer eine solche, die sich als nationale Bühne für den intellektuellen Diskurs verstand", folglich müsse sie auch endlich "in Berlin sich zeigen wollen".

Es ist nicht zu übersehen: Der Merkur hat es mit der Ästhetik. Weil aber viele Redakteure der FAZ und der taz im Merkur ihre Freizeit verbringen, kommt es immer wieder zu ästhetischem Ungenügen: So wird etwa, um der Frage willen, ob wir eher mehr oder eher weniger Innovation brauchen, auf einem Seziertisch ein Elchtest veranstaltet, der mit einer kalten Dusche endet. Karl Heinz Bohrer, unser maßgeblicher Ästhet, muß sich inmitten seiner Autoren ziemlich einsam fühlen, und sein ästhetisches Programm wäre noch überzeugender, wenn er sich endlich den extrem kalkhaltigen altdeutschen Akademikerjargon abgewöhnen könnte.

Vor Jahren ließ er sich von der Ästhetik der britischen Flotte antörnen, wie sie den Atlantik durchpflügte, um die Falkland-Inseln zu entsetzen. Später focht er in vorderster Linie gegen die "Gesinnungsästhetik" der alten Bundesrepublik. Der exemplarische Böll sei zwar ein guter Mensch mit besten Absichten, aber ein schlechter Romancier gewesen.

Bohrer verlangt "Phänomenalität, nicht Ideen" und will das Soziale aus der Literatur verbannen, denn es ist "das Banale, an dem einige von uns zu leiden beginnen". Es sei nur "eine Frage der Lernzeit, bis wann die im Sozialen Bornierten in diesem Punkt aufgeben". Bohrer erwartet das Erhabene, das etwa die deutsche Revolution von 1989 noch verfehlen mußte, weil sie nicht einen einzigen Tropfen Blut vergoß, nun um so zuversichtlicher in der Kunst.

Allein, es steht zu befürchten, daß es nicht kommen wird. Und käme es doch, die Bornierten würden's nicht erkennen und es auch weiterhin Kitsch nennen. Denn "das über alles Profane Erhobene, das ist das Erhabene", stellt sich nur bei gespitzter Wahrnehmung ein und in "Ausnahmesituationen", wie beispielsweise Ernst Jünger sie während zweier Kriege nicht selten erlebte.

Die Verwunderung darüber, daß unsere wiedergeborenen Ästheten das Soziale gerade in dem Moment zu langweilen beginnt, da die Schwierigkeit wächst, sich das Elend von der Pelle zu halten, ist zwar kein Argument gegen Bohrer, wohl aber ein weiteres Indiz, selbst unsere originellsten Köpfe könnten weniger über den Geist ihrer Zeit erhoben bzw. erhaben sein, als sie selber meinen. Demnächst werden sie, ganz désinvolture, durch die Armutsquartiere flanieren, immer auf der Suche nach der ungewohnten Wahrnehmung und ohne den geringsten Schimmer von der eigenen ästhetischen Schäbigkeit.

Kurt Scheel, der andere Herausgeber, schreibt Filmkritiken für die taz und rühmt sich bei Gelegenheit, das Wort "Gutmensch" erfunden zu haben. Leider ließ er es nicht patentieren, und so machte es eine eher ungute Karriere. Anfangs diente es wohl noch dem hoffnungslosen Versuch, gewissen penetrant moralisierenden, vorwiegend linksliberalen Geistern ein wenig Verstand einzublasen.

Inzwischen wurde es längst zu dem Zweck adaptiert, der Politik die Moral auszutreiben. Die strengsten Kritiker des Gutmenschen heißen heute Guido Westerwelle und Klaus Rainer Röhl. Vielleicht hätte man das früher merken müssen. Einer, der es noch immer nicht gemerkt hat, ist Klaus Bittermann: Am 14. August zog er in der jungen Welt eine historische "Zwischenbilanz" der Political Correctness und der "Gutmenschensprache". Statt sich aber zu fragen, ob er Helmut Markwort und Peter Gauweiler um Beiträge für einen dritten Band seines "Wörterbuchs des Gutmenschen" angehen soll, prügelte er unbeirrt, als wäre nichts geschehen, den armen Horst-Eberhard Richter und erzählte zum vierzehnten Mal die beliebte Anekdote, wie Wiglaf Droste einst von wahnwitzigen "Linksautonomen" attackiert wurde. So rennt man offene Türen ein und holt sich trotzdem eine dicke Beule.

Doch auch der Merkur hat seine seltenen Momente, da stimmt er den Leser über alle Maßen froh. Neulich mußte man sich von Ulrich Greiner sagen lassen, wer nichts könne, der könne immer noch Sprachkritik: "Weshalb sind es immer die Halbgebildeten mit der Schulmeisterattitüde, die das Trumpf-As der Sprachkritik aus dem Ärmel ziehen? Den armen Karl Kraus im beckmesserischen Rucksack ziehen sie gegen falsche Grammatik, schiefe Bilder und schlechte Anschlüsse zu Felde" (Akzente, Juni 1997).

Das tat so weh! Selbst die Gewißheit, man habe Karl Kraus noch nie zu Felde gezogen und ein unschuldiger Rucksack sei zwar nie im Leben beckmesserisch, allemal sei jedoch, wer dieses Epitheton immer noch verwendet, ein gewöhnlicher Schnarchsack, tröstete kaum.

Nun aber, ein trübsinniges Jahr später, Gustav Seibt im Merkur: Die Kompetenz des Feuilletons sei "eine im weitesten Sinne sprachkritische (...). Kritik müßte sich heute als Sprachkritik im weitesten Verstande - das heißt vor allem als Medienkritik - bewähren." Sowas geht natürlich runter wie ein großer Schluck aus der Buerlecithin-Flasche. Schönen Dank auch! Wenn sich dieses Programm durchsetzt, werden demnächst im Feuilleton zahllose Posten frei. Ob auch Seibt betroffen sein wird, haben natürlich andere zu entscheiden.

Sein Wort vom "pawlowschen Lobbyismus", das uns sagen soll, wann immer der Sparzwang ein Theater bedroht, mache das Feuilleton ganz selbstverständlich Lobby, klingt allerdings gefährlich. Wer morgen noch diskursfit sein will, lasse den guten Pawlow und seine Hunde endlich in Frieden ruhen. Gebetsmühlenartiger Lobbyismus? Nein, ist auch nicht besser.

Man kann sich seine Nachbarn nicht aussuchen. Berlin ist aber groß genug, daß man auch noch den Merkur wird ignorieren können.

Der Merkur erscheint monatlich und kostet 19 Mark