Das verflixte siebte Jahr

Die 1992 in Rußland eingeleitete "Schocktherapie" endet im Desaster

"Wir müssen das Land und die Ökonomie vor dem totalen Kollaps und Chaos retten", resümierte Alexej Arbatow, Abgeordneter der demokratischen Jabloko-Fraktion in der russischen Duma, vergangene Woche kurz und bündig die Modernisierung des russischen Systems. Seit Anfang 1992 firmierte diese unter dem Namen "Schocktherapie", und nach sieben Jahren hat sie der ersten Hälfte ihres Namens alle Ehre gemacht.

Bereits in den achtziger Jahren hatten die russischen Bürokraten erkannt, daß sie ihre Herrschaft an die neuen technisch-ökonomischen Bedingungen anzupassen hatten. Denn der Widerspruch zwischen polizeilich erzwungener Unterwerfung und ökonomischer Rentabilität war im Rahmen der alten bürokratischen Herrschaftsform nicht zu lösen. Weshalb sich die Bürokratie unter Gorbatschow zur Modernisierung entschloß. Der mußte traurig anmerken, daß die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit immer unregierbarer wurde.

Das Ziel war klar: die staatlich verwaltete Ökonomie aus der Sowjetzeit in eine Ökonomie nach westlichem Muster zu transformieren und sie in den Weltmarkt einzubinden. Nebenbei enthüllte die Bürokratie damit das Geheimnis ihrer eigenen Existenz: Sie hatte sich keineswegs die Gesellschaft angeeignet, um über den Sozialismus glorreich zum Kommunismus voranzuschreiten. Vielmehr setzte sie in dem agrarisch geprägten Rußland eine beschleunigte Industrialisierung durch und erhob damit die Lohnarbeit zur dominierenden Form der Produktion. Sie hatte also - auch wenn sie möglicherweise anderes im Sinn hatte - in der Herausbildung der Warenökonomie eine dem Bürgertum vergleichbare Funktion. Und die Ökonomie meldete nunmehr gebieterisch ihre Ansprüche an.

An 1988 entwickelte sich eine verborgene Nomenklatura-Privatisierung. Die Wirtschaftsministerien, so schreibt der russische Radikale Vadim Damier, wurden in Konzerne, die Belieferungsstrukturen in die "Börsen" und die Staatsbanken in die Handelsbanken (wie Inkombank, Menatep, Kredobank etc.) umgewandelt. Jede privilegierte Branche habe dabei ihre politische Lobby organisiert.

1992 erfuhr der Modernisierungsprozeß des russischen Systems - die SU war im Zerfall begriffen - einen weiteren Schub durch die "Schocktherapie". Von den Privatisierungen profitierten in erster Linie die hohen Kader der Nomenklatura aus den Ministerien und der Exportindustrie sowie die neue, junge Generation der Nomenklatura. Sie stellen heute im wesentlichen die Herren der industriellen und finanziellen Gruppen. Und sie konnten ihre ökonomische Vormachtstellung nur durch ihre engen Verbindungen zur politischen Macht im Kreml erlangen. Wenngleich die Interessengegensätze zwischen den sieben oder acht mächtigsten Tycoons bei verschiedenen großen Privatisierungen der letzten Jahre offen ausbrachen, stehen sie in der Stunde der Not regelmäßig zusammen. So sponserten sie 1996 angesichts eines möglichen Sieges des "Kommunisten" Sjuganow bei der Präsidentenwahl offen Jelzin, was ihren politischen Einfluß weiter stärkte.

In den vergangenen Wochen, als sich die russische Finanzkrise zur Staatskrise fortentwickelte, machten sie ihren Einfluß verstärkt geltend. Zwischen vier Hauptbeteiligten wurden nun die Karten neu verteilt: der Jelzin-Administration, den russischen Tycoons, dem IWF - stellvertretend für die ausländischen Regierungen und Investoren -, und dem von den sogenannten Kommunisten und Nationalisten beherrschten Parlament.

Am Wochenende vor der Abwertung des Rubel vor rund zwei Wochen tauchten nach Angaben der Washington Post mitten in der Nacht in den Gängen des Kreml einige Tycoons auf, deren Imperien einen Bankrott befürchten mußten. Sie setzten ein 90tägiges Moratorium für ihre Auslandsschulden durch.

Nicht in diesen Marathon-Gesprächen repräsentiert war die Bevölkerung, die einen weiteren Verarmungsschub zu erwarten hat. Aber sie spukte in allen Hintergedanken der Anwesenden herum. So wird der gefeuerte Tschubais mit den Worten zitiert: "Wissen Sie, was hier passieren könnte? Wir werden Indonesien hier haben!"

Ende August, nach der Absetzung

von Kirijenko als Ministerpräsident, titelte die Washington Post: "Tycoons übernehmen die Regierungsgeschäfte in Rußland" und verbreitete ihre Version der jüngsten Politposse aus dem Kreml: Insbesondere Boris Beresowskij hätte - über die Jelzin-Tochter Tatjana Datschenko und dem Chef der Kreml-Verwaltung V. Jumaschew - Druck für die Entlassung Kirijenkos ausgeübt. Die Tycoons fürchteten den Bankrott von Kirijenkos Plänen für die russischen Banken und setzten auf Tschernomyrdin. Unter dessen Regentschaft hatten sie einen Großteil ihres Einflusses erlangt. Tschernomyrdin steht für die Interessen des Energiekonglomerats Gazprom - vertritt somit eher die Interessen des russischen Kapitals als die des westlichen.

Die FAZ kommentierte entsetzt: "Das Kernland der zerfallenen Sowjetunion bringt seine Bürger abermals um die Hoffnung auf eine lichtere Zukunft und ist dabei, den bescheidenen Anfängen der Marktwirtschaft zu wehren und sein Heil in der planwirtschaftlichen Vergangenheit zu suchen." Es ist schwierig zu verstehen, welche "lichtere Zukunft" die Reformerriege um Kirijenko und Tschubais im generellen Finanzdesaster des russischen Staates zu bieten hatte. Klar ist jedenfalls, daß ihre Version des albanischen Pyramidenspiels mit immer kurzfristigeren, immer höher verzinsten Staatspapieren ausgereizt war. Und daß die Interessen des Westens von Tschernomyrdin schlechter bedient werden als von Kirijenko und Co.

Es ist banal zu sagen, daß keineswegs eine Rückkehr zu den alten Zeiten vor 1989 zu erwarten ist; mit dem Verfall der industriellen Produktion um etwa 50 Prozent ist die russische Ökonomie vielmehr in eine eigenartige Mischform aus überwiegend vorkapitalistischen, einigen mafios-kapitalistischen und einigen bürokratischen Elementen mutiert, und diese furchtbare Entwicklung läßt sich sich durch keine voluntaristische Politik zurückschrauben.

Der jüngste Versuch Tschernomyrdins, die "Kommunisten" in die Regierung einzubinden, ähnelt vielmehr - um ein altes Bild Balthasar Gracians zu gebrauchen - dem des Arztes, der nach fehlgeschlagener Therapie umsichtig einen weiteren Arzt unter dem Vorwand der Konsultation heranzieht, der ihm hilft, den Sarg hinauszuschaffen.