Unsensibler Aktenschwund

Unterlagen der Reichsbank über Raub-Gold aus den Vernichtungslagern sind in den siebziger Jahren in Deutschland verschwunden

Von August 1942 an lieferte der SS-Hauptsturmführer Bruno Melmer Schmuckstücke, Geld und Zahngold, das in Belzec, Sobibor, Auschwitz und Treblika jüdischen Opfern geraubt worden war, an die Reichsbank. 76 Lieferungen - je ein Lastwagen - wurden im Keller der Reichsbank von etwa 30 Beamten sortiert. Die Schmuckstücke gingen an die Berliner Pfandleihanstalt, das Gold bekam die Preußische Staatsmünze zum Einschmelzen, und das Geld behielt die Reichsbank.

Die aus der Verwertung und dem Verkauf erzielten Gewinne wurden auf das Konto "Max Heiliger" überwiesen und damit dem "Reinhardt-Fonds" der SS gutgeschrieben, der mit diesem Geld den Ausbau seiner auf Zwangsarbeit beruhenden Industrieunternehmen finanzierte. Ein großer Teil des eingeschmolzenen Zahngoldes - von dem die Melmer-Lieferungen, nach US-Schätzungen 40 Millionen Reichsmark, nur ein geringer Teil sind - wurde noch vor Ende des Krieges in der Schweiz deponiert. Als vor einigen Jahren bekannt wurde, daß die Schweizer Banken das "Raubgold" immer noch besitzen, wurde die Frage laut, weshalb das bundesdeutsche Finanzministerium nicht schon früher und von sich aus auf die Transaktionen hingewiesen hat: Die Unterlagen darüber waren schon 1948 von den US-Besatzungsbehörden an die damalige Bank Deutscher Länder übergeben worden. Die US-Regierung hatte damals - das Verfahren gegen führende IG-Farben-Direktoren vor dem Nürnberger Tribunal war gerade zu Ende gegangen - entschieden, keine weiteren Prozesse gegen deutsche Kriegsverbrecher anzustrengen. Die Ermittlungen wurden abgebrochen. Die USA brauchten die Akten nicht mehr.

Der "Zwischenbericht Gold" der unabhängigen Expertenkommission, die die Schweizer Raubgold-Affäre untersucht, war nun nach über 50 Jahren dem Bundesarchiv in Koblenz Anlaß nachzuforschen, was mit diesen Unterlagen, den nach dem Lieferanten benannten 26 "Melmer-Heften", geschehen ist. Ein Untersuchungsbericht soll im August veröffentlicht werden. Eines wurde jetzt schon bekannt: Die "Melmer-Hefte" und weitere Akten sind verschwunden.

Zwischen 1948 und 1975 hatte es, nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung (SZ), mehrere Anfragen wegen des Zahngoldes gegeben. Aus deren Beantwortung geht hervor, daß die Akten damals noch vorhanden waren. Die letzte Anfrage kam laut SZ von Robert W. Kempner, dem ehemaligen Chefankläger in den Nürnberger Prozessen. Der damals zuständige Bundesbank-Oberamtsrat Ulrich Benckert, der als Treuhänder für die Abwicklung der Reichsbank zuständig war und die Akten besaß, ist heute 86 Jahre alt, krank und teilt mit, er erinnere sich nicht mehr.

Mit der vollständigen Abwicklung der Reichsbank wurden die Akten samt Mikrofilmen, so der Bericht von Experten des Bundesarchivs und der Bundesbank, aufgeteilt und verschwanden teilweise. Die ARD-"Tagesthemen" berichteten in der vergangenen Woche, der Bericht lege nahe, daß die "Melmer-Hefte" bewußt vernichtet worden seien. Umgehend dementierten Bundesarchiv und Bundesbank diese Behauptung: Den "Tagesthemen" habe nur ein Entwurf des Abschlußberichts vorgelegen, der nicht mit der endgültigen Fassung übereinstimme.

Außerdem, so der Bundesbank-Experte Harald Pohl gegenüber der Frankfurter Rundschau, seien ausgerechnet die "Melmer-Hefte" nicht auf Mikrofilm gespeichert gewesen. Da weit belastendere Unterlagen nicht vernichtet worden seien, gehe er davon aus, daß "fehlende historische Sensibilität" der Grund für die Vernichtung der "Melmer-Hefte" gewesen sei. Eine absurd anmutende Argumentation, schließlich arbeiteten im Amt für die Reichsbankabwicklung vor allem hinreichend sensibilisierte ehemalige Reichsbank-Angestellte. Wie übrigens auch in der Bundesbank selbst. Doch die habe, so Pohl, nie Akten über das Zahngold besessen.

Nun ist das Bundesfinanzministerium gefragt: Es müßte wissen, wie die ehemaligen Reichsbankunterlagen aufgeteilt wurden. Bis jetzt wollte sich das Ministerium, das schon was den versuchten Handel der DDR mit geraubten Wertpapieren aus jüdischem Besitz betraf (Jungle World, Nr. 27/98) wenig auskunftsfreudig war, nicht äußern. Währenddessen suchen die deutschen Zeitungen nach einer Sprachregelung: Sind die Akten bewußt, also zum Zwecke der Verdunkelung, vernichtet worden oder wurden sie schlicht "im verwaltungspraktischen Sinn für wertlos gehalten", wie es im Expertenbericht heißt? Für die SZ deutet die personelle Kontinuität von Reichs- und Bundesbank auf die bewußte Vernichtung der Akten hin. Ein Beispiel ist Albert Thoms: Er war Leiter der Edelmetallabteilung der Reichsbank, an die das Melmer-Gold geliefert wurde, und bis zu seiner Pensionierung 1954 bei der Hauptkasse deutscher Länder beschäftigt, wo er Zugang zu den Akten hatte. Als Zeuge im Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher machte er umfangreiche Aussagen, um nicht selbst in einem der Folgeverfahren angeklagt zu werden.

Der größte Teil des Zahngoldes ging nicht in die Schweiz, sondern - so der "Zwischenbericht Gold" - nach dem Einschmelzen an die Deutsche und die Dresdner Bank. Beide sehen sich aktuell in den USA einer Sammelklage von Überlebenden und Angehörigen gegenüber, die auf 18 Miliarden Mark Schadenersatz klagen. So gibt es jedenfalls - ob die Akten noch existieren oder nicht - ein handfestes Interesse daran, daß sie verschwunden bleiben.