Giulianis Lebensqualität

Der New Yorker Bürgermeister räumt auf und beschwört den "Adel der Arbeit"

Wenn New Yorks republikanischer Bürgermeister Rudolph Giuliani aufräumt, dann gründlich: Jedes Sexkino, jede Peepshow oder jeder Laden, der sonstwie die sexuelle Moral untergraben könnte und näher als 500 Fuß (160 bis 170 Meter) an einer Schule, einem Kindergarten, einer Kirche, Wohnhäusern oder einem anderen Sexshop dran ist, muß schließen

Ein New Yorker Berufungsgericht entschied am Donnerstag der vergangenen Woche, diese Verordnung der Stadt widerspreche nicht dem Recht auf freie Meinungsäußerung. Bereits vorher hatte Giuliani angekündigt, Inspekteure auszusenden, um Material zu sammeln, das dann zur Schließung von Läden führen soll. Von den 177 betroffenen Etablissements fallen weniger als zwanzig nicht unter die Vorgaben

Für den Großteil der New Yorker Politik, die für den in der schwarzen Community durchaus umstrittenen schwarzen Pastor Calvin O. Butts an der "Schwelle zur Errichtung eines faschistischen Staates" steht, übernimt Giuliani gerne die Verantwortung. Vor allem, seit sich die Zero-tolerance-Kampagne gegen Kriminalität zu einer quality-of-life-campaign verändert hat. Potentielle Opfer sind nicht mehr nur diejenigen, die gegen die Gesetze verstoßen, sondern alle, die die "Lebensqualität" Giulianis und seiner Wähler bedrohen. Und das sind eine ganze Menge

Die Taxi-Fahrer beispielsweise: Seit Juni müssen sie sich mit drastisch verschärften Regeln herumschlagen. Wer zweimal eine rote Ampel überfahren oder zweimal die Geschwindigkeit überschritten hat, ist seine Lizenz los. Wer in seinem Taxi raucht oder seinen Gast rauchen läßt, muß 100 Dollar bezahlen, sollte er von einem Polizisten gesehen werden. Ein eintägiger Streik der gelben Taxis Anfang Juni, der von so gut wie allen Fahrern befolgt wurde und zu fast leeren Straßen führte, konnte nichts an Giulianis Plänen ändern. Im Gegenteil: "Von mir aus können die von nun an jeden Tag streiken", sagte der Bürgermeister am Abend nach dem Streik im Fernsehen

Gegen Straßenverkäufer wollte der Bürgermeister in 144 Blocks - vor allem in Midtown und dem Financial District, also jenen Straßenecken, an denen es sich besonders lohnt, Bagels zu verkaufen - ein Verkaufsverbot verhängen. Daß er damit nicht durchkam, lag - abgesehen von rechtlichen Problemen - vor allem an dem Protest von Angestellten der anliegenden Büros, die sich an den Ständen versorgen

Auch wer in der Öffentlichkeit kifft oder Bier trinkt, muß damit rechnen, eine Nacht im Gefängnis zu verbringen. Da ist es noch relativ harmlos, 100 Dollar zahlen zu müssen, wenn die Hifi-Anlage im Auto zu laut ist

Die Familie Shorter aus Brooklyn lernte an einem Morgen im April eine weitere Nuance der New Yorker Politik kennen: Um Viertel nach sechs flog eine Blendgranate in den Flur, ein bewaffnetes Kommando stürmte das Appartement. Die ganze Familie wurde festgenomen, die geistig behinderte 18jährige Tochter gar aus der Dusche gezerrt und in Handschellen abgeführt. Die von der Polizei in der Wohnung vermuteten Drogen und Waffen fanden die stürmischen Beamten jedoch nicht. Der Informant hatte sich geirrt

Aber die Polizeiaktion gegen die Familie Shorter ist keine Ausnahme, sondern direkte Folge der Politik unter Giuliani. Seit die Drogendealer von den Straßen vertrieben worden sind, wickeln sie ihre Geschäfte vor allem in Wohnungen ab. Dadurch kann der Kundenkreis einfacher beschränkt werden, und sie bleiben länger unbemerkt. Zugleich hat dies aber auch dazu geführt, daß die Zahl der Hausdurchsuchungen in den letzten Jahren wesentlich angestiegen ist: Galten Anfang der neunziger Jahre 500 Durchsuchungen pro Jahr als viel, waren es 1997 schon 2 900

Viele dieser Duchsuchungen sind no-knock-raids, die es der Polizei erlauben, ohne anzuklopfen die Tür einzutreten und die Wohnung zu stürmen. So kommt es immer wieder zu Vorfällen wie im Februar in der Bronx. Der Bewohner dachte, er werde überfallen, und schoß auf die Eindringlinge. Die - nicht faul - antworteten mit 26 Kugeln. Zwar wurde niemand verletzt, aber Drogen fand die Polizei auch hier nicht - das Kommando hatte sich in der Tür geirrt, wie die Einsatzleitung später zugab. Die sogenannte Erfolgsquote liegt bei 85 Prozent, so daß 15 von 100 Durchsuchungen Unschuldige treffen

Zweifellos sind Giuliani und seine Mitarbeiter nicht für alle Übel in New York verantwortlich. Die strikte Drogenpolitik beispielsweise wurde vor etwa 25 Jahren vom damaligen Gouverneur des Staates New York, dem erzreaktionären Nelson Rockefeller, durchgeboxt - derselbe Rockefeller, der auch für die blutige Niederschlagung der Gefängnisrevolte von Attica 1968/69 verantwortlich war. Gegen die Mehrzahl der Politiker seiner Zeit, gegen die Richterschaft und die Herausgeber der liberalen New York Times setzte er die Linie, "jeder, der mit Drogen dealt, kommt für den Rest seines Lebens hinter Gitter", durch

Spätestens nachdem auch die Kinder weißer Besserverdiener mitunter Hasch kauften und rauchten, war das zwar so nicht mehr haltbar, doch mit einigen Einschränkungen gilt das Prinzip auch heute noch. Und obwohl sogar die höchste New Yorker Richterin Judith Kaye sich für eine Liberalisierung ausspricht, wird es wohl noch eine Weile so bleiben

Doch quality of life definiert sich nicht nur über Ordnung auf der Straße. Genauso wichtig ist die Pflicht zur Teilnahme am american dream. Hieß es bisher, "jeder kann es schaffen, wenn er nur will", gilt mittlerweile eher: "Jeder sollte es schaffen, sonst hat er nichts zu wollen." Die Sozialhilfe ist so gut wie abgeschafft. Welfare bekommt nur noch, wer dafür arbeitet. Dieses sogenannte Workfare-Programm gibt es zwar in den ganzen Vereinigten Staaten, aber in New York sind die Richtlinien besonders strikt

Zwar ist die Wirkung des Programms umstritten - Kritiker behaupten, es führe dazu, daß die Angestellten des öffentlichen Dienstes ihre Jobs an Workfare-Empfänger verlören. Doch Giulianis Begründung seiner harten Linie ist ohnehin nicht ökonomisch motiviert, sondern moralisch, und mit Argumenten ist ihr deshalb auch nur schwer beizukommen. Es gelte, eine Kultur der Abhängigkeit zu bekämpfen und den Betroffenen den Adel der Arbeit nahezubringen, so Giuliani

Genauso verhält es sich an der City University of New York (CUNY). Traditionell ist die CUNY die Uni für jene Studenten, die es nicht schaffen, an der renommierten New York University aufgenommen zu werden, oder für diejenigen, die sonst gar keinen universitären Abschluß machen könnten. Als solche hatte sie immer die Funktion, Aufstiegsmöglichkeiten für Migrantenkinder zu eröffnen. Doch seit die Giuliani-Administration die Abschlüsse schwieriger gemacht und gleichzeitig Nachholklassen gestrichen hat, ist auch das immer schwerer möglich

Gleichzeitig boomt New York. Oder, wie es in der New York Times heißt: Der Unterschied zwischen den yuppisierten achtziger und den späten neunziger Jahren ist, daß heute viel mehr Leute noch viel mehr Geld verdienen. Denn ganz New York ist voll mit Geld, das über Börsen und Bankhäuser in die Stadt fließt. Und irgendwann landet ein kleiner Restbetrag eben auch am Ende der Dienstleistungskette - bei den Auslieferern von vietnamesischem Fastfood beispielsweise

Die Stadt New York, in den siebziger Jahren so gut wie bankrott, hat im Haushaltsjahr 1997 zum ersten Mal einen Überschuß erwirtschaftet. Doch im Unterschied zu den Erfolgen von Giulianis Politik wie sicheren Straßen und einer sicheren U-Bahn sind die Opfer dieser Politik nicht ohne weiteres sichtbar. Innerhalb New Yorks hat sich so etwas wie eine Township-Struktur gebildet. Besonders deutlich in Manhattan

Die einzige Gegend in Manhattan, die nicht vom Boom profitiert, ist Harlem. Hier ist das Ghetto. Darüber kann auch das Beschwören einer neuen Harlem-Renaissance nicht hinwegtäuschen. Was das Ghetto ausmacht, ist aber nicht, daß hier eine Gegend von einer bestimmten Bevölkerungsgruppe bewohnt wird, sondern die eingeschränkten sozialen Nutzungsmöglichkeiten innerhalb des Stadtviertels. Während Chinatown boomt und sich immer weiter ausbreitet und das polnische Viertel Greenpoint sehr lebendig ist, gibt es rund um den Malcolm-X-Boulevard nur Liquor-Stores und Lebensmittelläden. Sonst nichts. Die meisten anderen Ladenlokale stehen leer, viele Häuser sind nicht bewohnt

Wofür jedoch immer Geld da ist, sind neue Gefängnisse. Diese werden schließlich aus Bundesmitteln finanziert. Und Gefängnisse schaffen Arbeitsplätze, selbst wenn dort der eine Teil der Bevölkerung auf den anderen aufpaßt. Wie groß die Zahl der Häftlinge ist, zeigen Situationen wie bei dem Konzert des Gangsterrappers Noreaga im Apollo-Theatre. Bevor Noreaga einen Song für seinen zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilten Co-Rapper Capone spielte, forderte er alle im Publikum, die einen Freund oder eine Freundin im Knast haben, auf, die Hand zu heben. Neunzig Prozent der Anwesenden meldeten sich