Die Paten von Hameln

In der Rattenfängerstadt wollte der Oberstadtdirektor eine Patenschaft mit "Vertriebenen" beenden. Doch die Stadtverordneten befaßten sich nicht einmal mit seinem Antrag

"Seit Ende Juni 1945 kam es in nahezu allen Orten des Kreises Neumarkt zu polnischen Vertreibungen der deutschen Bevölkerung in Richtung Westen", heißt es in dem Buch "Leben und Überleben 1945/46. Zeitzeugenberichte aus dem Kreis Neumarkt in Schlesien". Diejenigen, die aus eben diesem Kreis verschwinden mußten, haben sich in und mit der Stadt Hameln in Niedersachsen bequem eingerichtet. Denn Hameln übernahm 1954 "die Patenschaft für den schlesischen Kreis Neumarkt". Der Rat der Stadt bekunde damit "besonders eindringlich", heißt es in der Patenschaftsurkunde, die "Schicksalsverbundenheit mit den Heimatvertriebenen und die große kulturelle Bedeutung des deutschen Ostens".

Am vergangenen Mittwoch stand nun bei einer Ratssitzung diese Patenschaft zur Disposition. Oberstadtdirektor Werner Lichtenberg (SPD) hatte eine Vorlage eingebracht, in der gefordert wurde, die Patenschaft "für beendet" zu erklären, weil sie "revanchistisch" sei. Das konnten die Hamelner Politiker nicht auf sich sitzen lassen: Der Chef der örtlichen SPD, Klaus Nolting, betonte, daß Lichtenberg nicht für Partei oder Fraktion gesprochen habe und sein Stellvertreter Uwe Schoormann ergänzte: "Die Neumarkter sind und bleiben uns willkommen." Der CDU-Vorsitzende Alfred Hodek bezeichnete es als "unvorstellbar", die Patenschaft zu beenden. Und Hans Wilhelm Güsgen, FDP-Fraktionsvorsitzender in Hameln, betonte, daß die FDP "ohne Wenn und Aber" an der Patenschaft festhalte.

Obgleich die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, Ursula Wehrmann, im Vorfeld Lichtenbergs Initiative noch "entsetzlich" fand, waren die Grünen im Hamelner Rat die einzigen, die Lichtenbergs Vorschlag überhaupt als beratungswürdig ansahen. Die SPD brachte einen Antrag auf "Nichtbefassung" ein, den sie dann gemeinsam mit CDU und FDP annahm. Klare Sache, denn die Vorlage des Oberstadtdirektors sei von "einem abgrundtiefen Haß diktiert" gewesen, faßte der Vorsitzende des "Neumarkter Vereins", Bruno Ibsch, gleichzeitig Ratsherr der CDU, die Meinung der Ratsmehrheit zusammen.

Für ihn und seine Kameradinnen und Kameraden stand bei der Vorlage einiges auf dem Spiel: Mit einer solchen Patenschaft, derer es bundesweit Hunderte gibt, ist zunächst finanzielle und ideelle Unterstützung für die "Vertriebenen" verbunden: Zum Beispiel die Bereitstellung von Museumsräumlichkeiten. In Hameln wurde den "Vertriebenen" in der historischen Altstadt eine "Neumarkter Heimatstube" eingerichtet. Beliebt ist auch die Benennung von öffentlichen Einrichtungen, um die Erinnerung an die Vertreibung wachzuhalten: So ist der Neumarkter Brunnen im Innenhof der Hamelner Stadtsparkasse ein repräsentatives Ergebnis der Patenschaft. Außerdem gibt es in Hameln einen Ostpreußenweg, eine Sudetenstraße, einen Schlesierweg, eine Breslauer und eine Neumarkter Allee. Auch bei den regionalen Treffen der "Vertriebenen" läßt sich die Patenstadt nicht lumpen. Für das Neumarkter Heimattreffen im Mai dieses Jahres bekamen die "Vertriebenen" die Hamelner Rattenfängerhalle, die Weserberglandfesthalle und das Theater zur Verfügung gestellt.

Das Perfide an diesen Patenschaftsverträgen ist, daß eine bundesdeutsche Stadt die Patenschaft für eine Stadt übernimmt, die seit 1945 nicht mehr unter diesem Namen existiert. Exil nennen das die "Vertriebenen". Als Exilvertretungen verstehen sich folgerichtig die BdV-Heimatkreisvereinigungen. Wie es sich für Exilvertretungen gehört, treten diese statt der amtierenden polnischen Behörden in die Patenschaften ein. Es handelt sich also um eine rein deutsche Angelegenheit - nur daß das verhandelte Objekt auf polnischem Staatsgebiet liegt.

Die meisten Dörfer und Städte wurden bei dem Bevölkerungstransfer seinerzeit nur aus Polen "ausgelagert", weil die Alliierten aus humanitären Gründen auf "Ortschaftsgeschlossenheit" bei der Umsiedlung achteten. Während des Kalten Krieges blieb mittels Heimat- und Brauchtumspflege der Kern dieser deutschen Gemeinschaften erhalten, so daß die "Heimatkreisvereinigungen" heute wieder zum Einsatz kommen können. Jetzt, wo Deutschland die Realisierung eines Volksgruppenrechtes als allgemeinverbindliche europäische Norm durchzusetzen versucht.