Fußball ist Isolationsfolter

Warum man sich das ganze Jahr auf die WM gefreut hat, ist unklar: Eigentlich macht sie keinen Spaß

Bis kurz vor Anpfiff der Fußball-Weltmeisterschaft stellte man sich die folgenden Wochen noch als puren Spaß vor. Man würde unglaublich spannende Spiele sehen, atemberaubende Kombinationen und tolle Tore, faszinierende Freistoßtricks und glanzvolle Paraden - und dann das.

Langsam kehrten Erinnerungen an frühere Turniere wieder, und damit war dann auch schon die Vorfreude auf das größte Sportereignis des Jahres jäh zu Ende. Denn WM gucken bedeutet leiden. Immer. Eine WM liegt z.B. dann vor, wenn keine der Mannschaften, denen man den Titel oder auch nur ein Weiterkommen in die nächste Runde gönnen würde, Erfolg hat. Im Gegenteil, die eigenen Lieblingsteams tölpeln grundsätzlich derartig blödsinnig über das Spielfeld, daß man niemals auch nur eine Zehntelsekunde lang das Gefühl hat, sie könnten gewinnen. Diejenigen, denen man jedoch so sehr gönnen würde, daß sie schon nach der Vorrunde tief gedemütigt ihre Koffer packen müssen, schaffen es mindestens bis ins Finale und werden fast immer Weltmeister. Und darauf soll man sich freuen?

Eine WM liegt aber auch dann vor, wenn Männer sich vor dem Fernseher versammeln. Denn beim Fußball geht es nur ums Rechthaben, weswegen er ein ausgesprochener Männersport ist. Mit Männern Fußball zu gucken geht nicht, denn jeder hat seine eigene Theorie, andauernd recht und weiß alles besser. Umso lieber, je mehr Frauen in der Nähe sind, denn selbst Männer, die noch niemals zuvor dadurch aufgefallen sind, daß sie die Abseitsregel auswendig und ohne zu stocken aufsagen können, nehmen an, daß sie genbedingt unglaubliche Ahnung vom Fußball hätten.

Als Frau während eines Spieles in solcher Gesellschaft irgendeine Frage zu stellen, führt automatisch zu genervten Reaktionen wie: "Wir können doch nicht jeder von euch einen eigenen Berater zur Seite stellen, wie stellt ihr euch das vor?!" und wissendem Gelächter der anderen. Daß das Großmaul kaum zwei Minuten später für ein harmloses Foul an der Mittellinie allen Ernstes vehement Elfmeter fordert, wird von der Männerrunde jedoch stillschweigend übergangen.

So handelt es sich um ein weiteres WM-Merkmal, irgendwann allein vor dem Fernseher zu sitzen - eine Weltmeisterschaft führt unweigerlich dazu, daß man seinen bisherigen Freundeskreis kritisch überprüft. Nicht nur die Telefonnummern aller Fußball-Machos müssen aus dem Adreßbuch gestrichen werden, sondern auch diejenigen, die keinen antideutschen Block in ihrem Wohnzimmer dulden. Und die von Frauen, die sich nicht entblöden, den unentschuldbarsten Satz von allen zu sagen, der ungefähr lautet: "Fußball ist doch blöd. 22 Männer rennen hinter einem Ball her - sollen sie doch jedem einen geben!", daraufhin erwartungsvoll in die Runde schauen und allen Ernstes damit rechnen, daß die sich halbtot lacht.

So bleibt nur die selbstgewählte Klausur. Aber auch dann muß man sich ärgern: Daß die Fifa keine kundenfreundliche Vereinigung ist, wurde schon kurz nach dem Anpfiff der Fußball-WM klar. Hinterrücks hatte sie einige Neuerungen eingeführt, die im Gegensatz zum Blutgrätschenverbot nicht lang und breit in der Öffentlichkeit diskutiert worden waren und die den Zuschauer entsprechend verwirrt vor dem Fernsehgerät sitzen ließen. "Was macht denn der Torwart da?" mußte man sich immer wieder mitten im Match fragen, bis man sich langsam wieder daran erinnerte, daß die WM-Schiedsrichter in manchen Partien aus optischen Gründen gelbe Sweatshirts anstelle der gewohnten schwarzen Hemden tragen und daher allesamt aussehen wie Bodo Illgner.

Extra darauf hingewiesen wurde vorher nicht, dabei sind die Fernsehanstalten allesamt ganz groß darin, den Bildschirmrand auszufüllen. Eine kleine Zahl oben rechts, das behauptete zumindest das ZDF, um die Zuschauer noch weiter zu verwirren, gebe die offizielle Nachspielzeit an. Der Hinweis gilt jedoch der Halbzeit, die gerade gespielt wird. Und so weiß man immer noch nicht genau, wie lange noch zu spielen ist.

Aber natürlich wird noch nicht abgepfiffen, sondern erst dann, wenn der Gegner das Siegtor erzielt hat - es handelt sich ja schließlich um die WM. Und bei der muß man sich nur sehr selten keine Sorgen machen.

Denn es gibt einige Spielpaarungen, die sich so anhören, als seien sie in puncto Spannung nur mit Begegnungen wie Bayer Leverkusen gegen Uerdingen zu vergleichen. Südkorea versus Mexiko etwa - für wen soll man da die Daumen drücken?

Aber da muß man durch, denn ein solches Spiel einfach nicht anzusehen, beschwört unweigerlich großes Unheil herauf. Entweder geht der Fernseher kaputt, oder man verpaßt die beste Szene der gesamten WM oder den dümmsten Satz, den je ein Kommentator gesagt hat oderoderoder. Das wäre schrecklich. Deswegen beschließt man, dranzubleiben und sich durch die schrecklichste Partie des Jahrzehnts zu quälen, die wegen der Nachspielzeit bestimmt ca. 100 Minuten dauern wird. Eine gute Entscheidung, denn so gehört man zu den ganz wenigen, die diese Spitzenpartie wirklich gesehen haben und kann damit dann später ganz schrecklich angeben. Bloß - bei wem?