Rotierende Geigerzähler

Angela Merkel bleibt nicht nur Umweltministerin, sondern auch Schutzengel der Atomindustrie

Dem Umweltengel sind zwar kräftig die Flügel gestutzt, abgestürzt ist er deshalb noch lange nicht: Trotz der Ausweitung der Atomskandale bleibt Umweltministerin Angela Merkel im Amt. Mitten im Wahlkampf kann es sich Kanzler Kohl schlicht nicht leisten, Schwäche zu zeigen und ein Kabinettsmitglied vor die Tür zu setzen. Schon gar nicht ein ostdeutsches. Ein Rücktritt Merkels wäre aber auch in anderer Hinsicht das falsche Signal: Kohl kann nicht riskieren, einen der wichtigsten Förderer der Bonner Koalition zu verprellen - die Atomindustrie. Denn auch ihre angebliche Härte gegenüber den Kraftwerksbetreibern kann nicht darüber hinwegtäuschen: Merkel ist und bleibt die Garantin des deutschen Atomstaates.

Der angeschlagene Umweltengel versucht sich freizuflattern: Jegliche eigene Verantwortung wird abgestritten und die Schuld den Bundesländern - vornehmlich den SPD-regierten - in die Schuhe zu schieben versucht. Nachdem die Umweltminister der Länder eine von Merkel am vergangenen Dienstag anberaumte Krisensitzung mit großer Mehrheit boykottierten und nur Referenten nach Bonn schickten, wollte die Bundesministerin zum Gegenangriff übergehen. Im Visier dabei natürlich vor allem Niedersachsen und sein Ministerpräsident Gerhard Schröder: Es sei dringend erforderlich, daß die Regierung in Hannover ihren Aufsichtspflichten nachkomme, forderte Merkel. Niedersachsens Umweltminister Wolfgang Jüttner konterte, indem er wie seine hessische Amtskollegin Priska Hinz eine Überprüfung der Zuverlässigkeit der Kraftwerksbetreiber einleitete. Denn laut Atomgesetz können Betriebsgenehmigungen für AKW bei Unzuverlässigkeit der Betreiber entzogen werden.

Die Propaganda von der sicheren deutschen Atomkraft wurde derweil komplett unglaubwürdig, nachdem am Wochenende bekannt wurde, daß aller Wahrscheinlichkeit nach im Januar 1987 300 Arbeiter und Arbeiterinnen in der Hanauer Atomfirma Nukem verstrahlt worden waren. Daß die 100prozentige RWE-Tochter diese "spontane Dosimeterkontamination" zudem dezent verschwiegen und entsprechende Berichte erstgar nicht erstellt hat, läßt die Enthüllungen der vergangenen Wochen schon beinahe bescheiden erscheinen. Dabei sind auch diese nicht gerade von Pappe: So mußte die AKW-Betreibergesellschaft Energie einräumen, daß von den 128 Nukleartransporten, die seit 1983 vom AKW Philippsburg nach La Hague rollten, mehr als die Hälfte, nämlich 65 verstrahlt waren. Als Konsequenz läßt die Deutsche Bahn AG derzeit alle Transportgestelle für Castoren überprüfen - und wurde prompt fündig: In Darmstadt rotierte der Geigerzähler an einem Gestell, das aus Bayern stammt. Am Bodenblech maßen die Kontrolleure eine Strahlung von 50 000 Becquerel - der Grenzwert liegt bei vier. Die Staatsanwaltschaft Hanau erwägt nun die Einleitung eines Strafverfahrens. Auch sonst mehren sich die strafrechtlichen Ermittlungen gegen Energieversorgungsunternehmen (EVU) und Behörden. Und der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz stellte in Würzburg Strafanzeige gegen die AKW-Betreiber Bayernwerke. Hermann Lutz von der Gewerkschaft der Polizei hält Castor-Transporte auf lange Zeit für nicht mehr durchführbar: "Die Polizisten würden in einen Bürgerkrieg geschickt." Er forderte einmal mehr den Rücktritt der Umweltministerin.

Um dem gemeinsamen Untergang zu entrinnen, übt sich Ministerin Merkel derzeit in starken Tönen gegenüber der Atomindustrie - frei nach dem Motto: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Die Vorschläge der Stromkonzerne gingen ihr noch nicht weit genug, verkündete die Ministerin und forderte, daß Transportfirmen künftig nicht mehr unter dem direkten Einfluß der EVU stehen dürften. Ein Vorstoß, der die Kraftwerksbetreiber sicherlich im Mark erschüttert hat.

Ungeachtet der Probleme zu Hause, streckt die Atomlobby derweil ihre Fühler in Richtung des lukrativen osteuropäischen Marktes aus: Am selben Tag, an dem in Bonn die Umweltministerkonferenz tagte, unterzeichneten Deutschland, Frankreich und Rußland ein Abkommen mit dem Ziel, in Rußland eine Anlage zur Umwandlung von Bombenplutonium in Mischoxid-Brennelemente (MOX) zu errichten. In diesen Tagen soll zudem ein weiteres osteuropäisches Atomprojekt mit deutscher Beteiligung ans Netz gehen: Der umstrittene Reaktor im slowakischen Mochovce. Der Druckwasserreaktor russischer Bauart wurde maßgeblich von Siemens mit Sicherheitstechnologie nachgerüstet - ein Pilotprojekt für 14 weitere Reaktoren dieser Art in Mittel- und Osteuropa. Österreichische Experten hatten die Anlage im April inspiziert und vor einer Katastrophe gewarnt, falls der Reaktor in Betrieb genommen würde.