Kein Land in Sicht

Brasiliens Landlosenbewegung lebt gefährlich. Denn die Todesschwadronen der Agrarlobby und die Militärpolizei stehen nicht auf Reformpolitik

Brasiliens Landlose bereiten der Regierung Probleme. Sie besetzen einfach brachliegende Äcker oder plündern. So am 21. Mai, als im Nordosten des Landes mehrere hundert von ihnen einen Lebensmitteltransport der Regierung überfielen und die Güter in Eigenregie weiterverteilten.

Zur bedeutendsten außerparlamentarischen Opposition des Landes geworden, hat die Bewegung aber auch ernstzunehmende Feinde. So vergeht kaum eine Woche, in der nicht ein Vertreter der brasilianischen Landlosenorganisation Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST) irgendwo im Hinterland erschossen aufgefunden wird. Rund 20 Todesopfer hat der MST seit Jahresbeginn zu beklagen, und angeblich sollen weitere Führer der Gruppierung auf sogenannten Todeslisten stehen. Luci Shoinaki, der Vorsitzende der linksgerichteten Arbeiterpartei (PT), weiß, daß im Bundesstaat Santa Catalina beispielsweise zwei MST-Mitglieder im Auftrag von Großgrundbesitzern durch Todesschwadronen ermordet werden sollen.

Das MST-Führungsmitglied Jo‹o Pedro Stedile spricht daher von einem "Bürgerkrieg niederer Intensität". Auch amnesty international bemängelt, Militärpolizisten hätten in Brasilien völlig freie Hand. Im vergangenen Jahr sollen sie allein im Bundesstaat S‹o Paulo mehrere tausend Menschen erschossen haben. Die Landlosenbewegung ist dabei eines der Hauptziele.

So ließ Almir Gabriel, der Gouverneur des Amazonasteilstaats Par‡, am 17. April 1996 mit Billigung des Präsidenten 153 Militärpolizisten gegen etwa 1 000 Landlose aufmarschieren, die in Eldorado dos Caraj‡s eine Straße blockierten. Sie feuerten mit Maschinenpistolen in die Menge und schossen auch auf die Flüchtenden - zahlreiche Tote waren in den Rücken getroffen. Nach offiziellen Angaben kamen bei dem Blutbad 19 Menschen ums Leben; andere Quellen sprachen hingegen von über 30 Toten.

Brasiliens Präsident Fernando Henrique Cardoso reagierte damals mediengerecht und sagte eine unverzügliche Aufklärung des Massakers sowie die Bestrafung der Täter und Verantwortlichen zu. Er äußerte sein Bedauern, daß wieder einmal die "archaische Seite Brasiliens" zum Vorschein gekommen sei.

Doch keiner der damaligen Todesschützen wurde vom Dienst suspendiert, obwohl zehn der Mörder in Uniform nach Zeugenaussagen auch an der Ermordung der MST-Koordinatoren, Onalicio Barros und Valentin da Silva Serra, Ende April dieses Jahres im Bundesstaat Par‡ beteiligt waren.

Cardoso, der sich in seinem Wahlprogramm einer "Modernisierung" des Landes verschrieb, wollte gerade diese "archaische" Seite im größten Staat Lateinamerikas abbauen und den Armen - den landlosen Bauern und Tagelöhnern - so etwas wie soziale Sicherheiten verschaffen. Auch die seit Jahren angekündigte Landreform hatte der Sozialwissenschaftler, der einst als Mitbegründer der Dependenztheorie bekannt wurde, zum Amtsantritt im Oktober 1994 in sein Programm aufgenommen. 280 000 der rund fünf Millionen landlosen Familien wollte er mit Ackerboden versorgen.

In den Augen des MST zuwenig, aber immerhin ein Anfang, um die Landkonzentration langfristig zu reduzieren. 87 000 brasilianischen Großgrundbesitzern - unter ihnen der Präsident selbst - gehören 187 Millionen Hektar besten Ackerbodens, während auf den Rest der 3,1 Millionen Landbesitzer 144 Millionen Hektar Boden entfallen. Für die zwei Millionen Kleinbauern bleiben dabei knappe acht Prozent des bestellbaren Bodens übrig. Mehr als 100 Millionen Hektar Ackerland liegen hingegen brach und dienen den Großgrundbesitzern als stille Reserve. Eine Konzentration von Grundbesitz, wie sie selbst in Lateinamerika einmalig ist.

Von der Erfüllung seines Wahlversprechens ist Cardoso momentan aber noch weit entfernt: 187 000 Familien will der Präsident bisher mit Agrarland versorgt haben - knapp 100 000 weniger als für die ausklingende Legislaturperiode angekündigt. Doch nach dem MST halten diese Zahlen keiner näheren Betrachtung stand. Beispiel dafür ist das von der Regierung hochgejubelte Luminar-Projekt, mit dem eine große Anzahl landloser Familien angesiedelt werden sollen. Stedile konnte für die MST allerdings belegen, daß dieses Projekt bisher nur auf dem Papier existiert und das bewilligte Geld nie angekommen, sondern irgendwo versickert war.

Dennoch behauptet Cardoso wiederholt, der Landreform Priorität einzuräumen. Aber selbst die dem MST nicht besonders nahe stehendeTageszeitung O'Globo veröffentlichte eine Umfrage, nach der etwa vier Fünftel der Bevölkerung das Reformtempo der Regierung als ungenügend bezeichneten, eine Landreform aber auf jeden Fall befürworteten. Unter der Ägide des selbsternannten Reformers sind immerhin 400 000 landwirtschaftliche Betriebe bankrott gegangen. 1,2 Millionen Landarbeiter verloren dabei ihren Job.

Die steigende Arbeitslosigkeit führt Luis Ignacion "Lula" da Silva, Präsidentschaftskandidat der PT, auf die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung zurück, die für viele brasilianische Unternehmen zu früh kam. Aber auch der "Plano Real", das währungspolitische Stabilisierungsprojekt des Präsidenten, ist in Lulas Augen fragwürdig. Zwar habe der Plan die Hyperinflation beseitigt, aber gleichzeitig zu einer Überbewertung des Real geführt - ein Nachteil für die Exportindustrie, der weitere Arbeitsplätze gekostet habe. Neue Arbeitsplätze seien hingegen rar, obgleich sie durchaus geschaffen werden könnten - vor allem, so Lula, in der Landwirtschaft.

Eine vernünftige Landverteilung, so haben "Entwicklungsexperten" berechnet, könnte zum größten Arbeitsbeschaffungsprogramm in der brasilianischen Geschichte werden. Doch Präsident Cardoso hält zur einflußreichen Agrarlobby. Mehr als ein "Arrangement mit den Großgrundbesitzern", wie die brasilianischen Bischöfe Cardosos angebliche Landreform bezeichnen, scheint nicht durchsetzbar.

Denn die Großgrundbesitzer, die sogenannten "ruralistas", stellen im brasilianischen Parlament einen parteiübergreifenden Block. Auch 170 Abgeordnete von Cardosos Mitte-Rechts-Koalition gehören der "bancada ruralista" an. Maßnahmen gegen die Interessen der Großgrundbesitzer lassen sich damit nur schwer verabschieden und haben zur Folge, daß diese Fraktion anderen Beschlüssen ihre Zustimmung versagt und die Regierung damit blockiert.

Kritik an seiner starren Agrarpolitik hört Cardoso angesichts der im September dieses Jahres anstehenden Präsidentschaftswahlen natürlich ungern. Ein ähnliches Reizthema ist die Verfolgung der MST durch die Justiz. So wurde José Rainha Junior von der MST-Führungsspitze wegen eines Doppelmordes zu 26 Jahren Haft verurteilt. Er soll einen Großgrundbesitzer und einen Militärpolizisten während einer Landbesetzung erschossen haben. Obwohl Rainha ein durch zehn Zeugen bestätigtes Alibi hatte, wurde er im Juni letzten Jahres verurteilt.

Der Fall rief allerdings amnesty international auf den Plan: Durch eine urgent action der Menschenrechtsgruppe erhielt Cardoso massenhaft Protestschreiben; das Verfahren gegen Rainha soll nun neu aufgelegt werden.