Misteln gegen Ischias?

Wegen der erhöhten Zuzahlung bei Arzneimitteln boomt die Selbstbehandlung. Die Pharmaindustrie will deshalb mehr werben dürfen

Früher, so anno 1996, da trafen sich die Senioren am Sonntagnachmittag im Pfarrsaal der Gemeinde und hatten richtig Spaß. Es gab Streuselkuchen, der von faltigen Händen hinter die dritten Zähne geschoben wurde. Zwar fehlte die gute Butter, aber der Kaffee war wieder mal nicht koffeinfrei und die Zithermusik, die vom Band kam, laut genug.

Kurz, alles befand sich in bester Ordnung. Seit dem 1. Juli 1997, als die Selbstbeteiligung bei Medikamenten pauschal um fünf Mark angehoben wurde, ist der gemütliche Kaffeeklatsch einer erregten Fachsimpelei gewichen. Helfen die billigen Mistelextrakte aus dem Supermarkt gegen Ischias, und die roten Pillen, die seit Jahren im Küchenschrank lagern, könnten sie nicht vielleicht auch den chronischen Bluthochdruck senken?

Nach dem Ergebnis einer jüngst veröffentlichten Emnid-Umfrage müßten das die repräsentativen Sorgen der Senioren von heute sein. Denn 29 Prozent aller Befragten, errechneten die Fachleute, wollen aufgrund der erhöhten Zuzahlung die Selbstmedikation ausdehnen. Liegt das Haushaltseinkommen unter 2 000 Mark, wie das gerade bei älteren Patienten oft der Fall ist, werden gar 36 Prozent rezeptfreie Arzneimittel in Eigenregie anwenden.

Schon heute holt sich jeder Bundesbürger im Jahresdurchschnitt acht Packungen auf eigene Verantwortung aus der Apotheke. Von den 1,7 Milliarden verkauften Packungen gehen damit zwischen 600 und 700 Millionen aufgrund von Selbstmedikation über den Ladentisch. Beinahe jeder zweite nimmt die drastische Sparmaßnahme im Gesundheitswesen außerdem zum Anlaß, künftig seltener einen Arzt aufzusuchen. Und die Hälfte der Patienten will auch Rezepte, die der Arzt verschrieben hat, nicht mehr einlösen.

Diese Zahlen stellte der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) der Presse Ende April auf dem Wiesbadener Internistenkongreß vor. Mitte 1997 war mit der dritten Stufe der Gesundheitsreform die Eigenbeteiligung der Patienten an den Arzneikosten gewaltig in die Höhe geschraubt worden. Für jedes Rezept sind seither nicht mehr vier, sondern neun Mark zu zahlen, bei der größten Normpackung (N3, z.B. 100 Tabletten) sogar 13 Mark. Und für den 1. Juli 1999 ist schon die nächste Zuzahlungserhöhung geplant. Damit kuriert der Gesundheitsminister vor allem die siechen Schatzkammern der Krankenkassen. Während die Ausgaben der Krankenkassen für Arzneimittel 1997 um rund zwei Milliarden auf insgesamt 31,8 Milliarden Mark gesunken sind, verdoppelte sich erwartungsgemäß der Anteil aus den privaten Taschen auf sieben Milliarden Mark. Über 20 Prozent der Gesamtausgaben für Medikamente tragen demnach die Verbraucher selbst. Nicht zuletzt dieser Privatisierungsschub hat dazu beigetragen, das Kassendefizit von vier Milliarden Mark in den letzten sechs Monaten des Vorjahres in ein Plus von einer Milliarde zu verwandeln.

Der wirtschaftliche Erfolg präsentiert nun seine sozialen Kosten. "Die Annahme, daß in erster Linie ältere Patienten von der Zuzahlungserhöhung betroffen sind, liegt schon deshalb nahe, weil über 60jährige einen signifikant höheren Bedarf an Medikamenten haben", erklärt Ulrich Schwabe, Professor am Pharmakologischen Institut der Universität Heidelberg. Bis die gesetzlich fixierte Überforderungsklausel greift, haben die Senioren oft einen empfindlichen finanziellen Aderlaß hinter sich. Ein verführerischer Ausweg, den laut Emnid die Hälfte der Patienten in Erwägung ziehen, nämlich die Rezepte einfach nicht einzulösen, kann sich schnell als Sackgasse herausstellen. Daß Medikamente, die von den Patienten nicht gekauft werden, ohnehin überflüssig waren, hält Schwabe für einen gefährlichen Trugschluß. Verschreibungspflichtige Medikamente, die besonders von alten Menschen konsumiert werden, wie etwa Mittel gegen Bluthochdruck, ließen sich nicht durch die Selbstmedikation ersetzen. Jedes nicht eingelöste Rezept bedeute hier: keine Therapie.

Der Zusammenhang von Zuzahlungserhöhung und Therapieausfall läßt sich allerdings kaum quantifizieren. Deutliche Einbrüche gibt es nach den Beobachtungen Gerd Glaeskes von der Barmer Ersatzkasse bei jenen Mitteln, deren Wirksamkeit und medizinischer Wert schon in der Vergangenheit umstritten waren. Gerade im Fall durchblutungssteigernder Medikamente greife hier der Druck der Selbstbeteiligung, weil der Arzt sie einfach nicht mehr verschreibe.

Doch darf die Evaluierung der Produkte der ökonomisch gesteuerten Alltagspraxis überlassen werden? "Kostentransparenz und Wirkungstransparenz" wären für Glaeskes, den Leiter der Abteilung für medizinisch-wissenschaftliche Grundsatzfragen bei der Barmer, die nötigen Voraussetzungen, um Ordnung zu schaffen auf dem unübersichtlichen Markt. Erst dann sei Selbstmedikation überhaupt verantwortbar, besonders für jene, die mehrere Mittel nehmen müssen. "Der Kraut- und Rübenmarkt im Pharmabereich", sagt Glaeske, "ist die größte Gefahr für ältere Patienten."

Auch der BPI-Vorsitzende Hans Rüdiger Vogel nennt das Ergebnis der Emnid-Umfrage "bedenklich". Wenn der Patient aus Kostengründen eine vom Arzt verordnete Therapie nicht wahrnehme, bestehe die Gefahr, daß die Krankheit chronisch werden könne. Chronische Krankheiten sind aber für die Kassen in der Regel teurer als akute. Mehr Sorge bereitet dem Pharmazieverband allerdings der eigene Umsatz: So hätten die Ärzte zuletzt weniger rezeptfreie Medikamente verschrieben, und diesen Rückgang konnte auch der Anstieg der Selbstmedikation nicht ausgleichen. Vogel hat ein einfaches Rezept, um den Verkauf wieder anzukurbeln: Werbung. Es fordert die Aktualisierung des Heilmittelwerbegesetzes. "Besonders wichtig ist die Überarbeitung der sogenannten Krankheitsliste, die diejenigen Krankheitsgebiete verzeichnet, für die der Hersteller seine Präparate nicht beim Patienten bewerben darf. Dazu gehören zum Beispiel Arzneimittel zur Behandlung der gutartigen Prostatavergrößerung." Bleibe die Werbung für Pharmaprodukte weiterhin den geltenden Restriktionen unterworfen, komme dies "fast einem Marktverbot gleich". Von einem deutlichen Umsatzverlust der Pharma-Industrie aufgrund der Zuzahlungsänderung kann allerdings keine Rede sein. Nach den Berechnungen der Bundesvereinigung Deutscher Apotheker hat sich der Umsatz mit Pharmazeutika in den letzten Jahren relativ stabil bei 50 Milliarden Mark eingependelt.

Der Umsatz stimmt also auch ohne Werbung, doch ob die Produkte bei einer Do-it-yourself-Medizin auch ihre Heilkräfte entfalten, ist fraglich. Die abrupte Verwandlung des hilfsbedürftigen Patienten in einen eigenverantwortlichen Selbstheiler, die die Meinungsforscher diagnostizieren, dürfte besonders den alten Menschen schlecht bekommen. 80jährige, so fand das Pharmakologische Institut in Heidelberg heraus, leiden durchschnittlich an sieben verschiedenen Grundkrankheiten. Langzeittherapien mit einem oder mehreren Medikamenten gegen chronische Leiden sind die Regel. Der BPI empfiehlt den Senioren deshalb, sorgfältig darauf zu achten, "daß die verschiedenen Arzneimittel sich nicht gegenseitig in ihren Wirkungen beeinflussen".

Also an alle Kaffeekränzchen: Den Kuchenteller bitte fest anpacken, energisch zurückschieben und mit dem Lernen beginnen für das Physikum.