Wie man sich verliebt

Louis Aragons Liebesroman "Aurélien" beschreibt die Unmöglichkeit des Paares

Was Louis Aragon 1926 in "Der Bauer von Paris" über den Surrealismus schrieb, ließe sich seinem 1944 erschienenen Roman "Aurélien" als Prolog voranstellen; es enthält den Konstruktionsplan des Romans, die Geschichte Auréliens in nuce. "Das Laster namens Surrealismus", so Aragon, "ist der zügellose Gebrauch des Rauschgifts Bild oder vielmehr das Verfahren der unkontrollierten Hervorbringung des Bildes um seiner selbst willen und um der unvorhersehbaren Störungen und Verwandlungen willen, die es im Bereich der Vorstellung nach sich zieht; denn jedes Bild zwingt einen jedesmal, das ganze Universum zu revidieren. Und jeder Mensch vermag ein Bild zu finden, das das gesamte Universum vernichtet."

In dem anläßlich des 100. Geburtags Aragons wiederaufgelegten Roman "Aurélien", das der Autor selbst zu seinen "Lieblingsbüchern" rechnete, beschäftigt sich der zum Zeitpunkt der Niederschrift längst abtrünnig gewordene Surrealist noch einmal mit ausgesprochen surrealistischen Themen: mit der Wirkungsmacht des Bildes, der Fetischisierung des Liebesobjekts, der erotischen Begegnung als Inszenierung jenseits des Alltags.

Für Aurélien ist es das Bild Bérénicens mit geschlossenen Augen, das für ihn zum Schlüsselerlebnis wird, ihn in eine Krise stürzt und zwingt, sein gesamtes Universum zu revidieren, genauer, es ist das vage Schlafeslächeln, der Ausdruck "glücklichen Schmerzes", den er eines Abends in ihrem Gesicht wahrnimmt. Allerdings weiß Aurélien in dieser Nacht im Lulli's, einer Tanzbar im Paris der zwanziger Jahre, noch nicht, daß er sich in diesem Augenblick in die Provinzlerin Bérénice, die ihm bei ihrer ersten Begegnung nur durch ihre geschmacklose Kleidung aufgefallen war, verliebt hat. Aurélien, Anfang 20, der typische Dandy, bisher ziellos, leidenschaftslos, erlebt jene Sinnverwirrung - beschrieben als "Unruhe", "Taumel", "Delirium" -, die das Gegenteil von Orientierungslosigkeit ist, sondern ein Sich-gehen-Lassen in eine neue Richtung bedeutet.

Aurélien, wie er zu Beginn des Romans vorgestellt wird, verkörpert in gewisser Weise noch den surrealistischen Menschen; allerdings ist dieser, anders als in den frühen Arbeiten Aragons, nicht mehr in das mystifizierende Licht des Surrealismus getaucht, d.h. er besitzt keine uneingeschränkte poetische Autorität, sondern ist als bürgerliches Individuum angreifbar geworden. In der Titelfigur hat sich der Autor als Dandy selbst porträtiert, aber vor allem die Wendung seines Jugendfreunds Drieu La Rochelle ins Bürgerlich-Reaktionäre sachte nachgezeichnet.

"Spiel", "Zufall", "Wiederholung" bilden die geheimen Subkoordinaten in Auréliens Leben. Seine bevorzugte Beschäftigung, ein seltsames Spiel, das "alle Männer kennen" und einem genauen Regelwerk gehorcht, charakterisiert ihn als den typischen (surrealistischen) Flaneur. "Man folgt der ersten einigermaßen passablen Frau, der man begegnet, die einem entgegenkommt, so lange, bis sie zum Beispiel nach links abbiegt. Bei der ersten kontraindizierten Frau, die aus der entgegengesetzen Richtung kommt, verläßt man die erste und folgt der neuen, indem man denselben Weg wieder zurückgeht. Das kann man natürlich nach rechts wie nach links machen. Das kann sich auch komplizierter gestalten, mit einer Menge Regeln, die man für sich erfindet, ein, zwei Monate beibehält, dann zugunsten neuer Regeln aufgibt."

Das weibliche Pendant zur männlichen Figur des Flaneurs ist nicht nur in diesem Roman Aragons die Prostituierte, wobei sich aus Sicht des umherschweifenden Spaziergängers jede Frau in eine achtbare Prostituierte verwandeln kann. Die Liebesbeziehung zu einer Frau, die in das Alltagsleben Auréliens eindringen würde, ist in dieser auf die flüchtige Begegnung in den Straßen Paris fixierten Liebeskonzeption Auréliens nicht vorgesehen. In dieser Situation trifft er auf Bérénice.

Als er die Cousine seines eleganten und zynischen Freundes Edmond, dem er sich seit der gemeinsamen Zeit an der Front im Ersten Weltkrieg verbunden fühlt, zum erstenmal sieht, findet er sie schlichtweg häßlich. Er mag ihr blondes kurzgeschnittenes Haar nicht, findet sie langweilig, sogar ein bißchen ungepflegt. Die Phantasie Auréliens entzündet sich allein an ihrem Namen, Bérénice (wie sich die Phantasie Aragons an der gleichnamigen Tragödie von Racine entzündet haben mag). Daß ausgerechnet eine Frau mit dem Namen einer orientalischen Prinzessin so bläßlich wirkt, verwundert ihn: "Hätte sie Jeanne oder Marie geheißen, hätte er hernach nicht wieder an sie gedacht. Aber Bérénice. Merkwürdiger Aberglaube. Das war es, was ihn irritierte."

Daß er sich bereits ein paar Tage nach der ersten Begegnung in dieses müde Gesicht Bérénicens verliebt hat, weiß Aurélien erst, als er den gleichen schlaftrunkenen Ausdruck ein zweites Mal wahrnimmt, diesmal auf einer Gipsmaske; ein sehr surrealistisches Requisit: Weibliche Gipsabdrücke gehörten zum unverzichtbaren Inventar des Bureau Central de Recherches Surréalistes. Erst das Kunsterlebnis verschafft Aurélien Gewißheit über seine Liebe zu Bérénice.

Die Bérénice des Romans, den Aragon nicht als Schlüsselroman, aber als einen Roman "mit vielen falschen Schlüsseln" verstanden wissen wollte, hat ihr reales Vorbild in Denise Kahn, der Cousine Simone Bretons, und man wird die Grausamkeit, mit der Aragon die körperlichen Makel von Denise beschreibt, um sein Bild desto strahlender erscheinen zu lassen, beim Betrachten ihrer Fotografien ziemlich empörend finden, andererseits verstehen, warum gerade Denise Kahn diese Art poetischer Animation erfahren hat.

Tatsächlich entspricht sie nicht dem im Künstlerkreis um Aragon und Breton favorisierten elfengleichen Frauentypus und fällt neben den mondän gekleideten, auf eine gewisse Exzentrik bedachten Surrealistenfrauen bereits durch ihre viel schlichtere Art sich zu kleiden auf. Auch meint man auf einer Fotografie, die sie gemeinsam mit ihrer Cousine Simone Breton und deren Liebhaber Max Morise zeigt, den von Aragon beschworenen Ausdruck des Unbeteiligtseins, der Langeweile zu entdecken, der im Bild der Schlafenden kulminiert. Vermutlich aber trägt die Figur der Bérénice auch Züge seiner Frau Elsa Triolet, die, eine Art Yoko Ono im Surrealistenkreis, sich dem programmatischen Frauenbild der Gruppe am stärksten widersetzte, sich dem Nympchenideal regelrecht entgegenzustemmen schien.

Ist dieses Buch ein Liebesroman, vielleicht sogar einer der schönsten? Aragon selbst nannte es im Gegenteil "einen Roman über die Unmöglichkeit des Paares". Zwei Monate sind es lediglich, die Auréliens Zeit mit Bérénice ausmachen; und die verheiratete Frau findet selten Gelegenheit, sich mit dem Geliebten zu treffen, bevor sie - nach einer kurzen unwichtigen Affäre mit einem Dritten - endgültig zu ihrem Ehemann in die Provinz zurückgeht.

Es gibt in diesem Roman keinen wuchtigen zentralen Konflikt, an dem die Liebe tragisch oder kläglich scheitern könnte, dafür eine fein gesponnene Intrige, in der sie sich verfangen; Mißverständnisse, die das Liebesideal bedrohen und die schnelle Abnutzung eines großartigen Zustands ankündigen. Bérénice verlangt das Absolute; Aurélien vermutet dahinter die Drohung lebenslänglichen Eheglücks und weiß, daß er die Metaphysik der Liebe nur in ihrem Bild wird bewahren können. Nach acht Wochen geht man bereits wieder getrennte Wege; was also passiert auf den 700 Seiten dieses Buchs?

Vor allem ist es ein Roman über die verschiedenen Stadien des Sich-Verliebens, und Aragon beschreibt sie mit einem nahezu physiologischen Interesse, wobei er sich von der Frage leiten läßt, wie das Bild der geliebten Person allmählich aus den Ideen des Liebenden heraus sich formt, durch welche Erinnerungen es hervorgerufen wird; aber auch, durch welche Wahrnehmungen es bedroht wird. Würde er Bérénice unvermittelt auf der Straße treffen, so befürchtet Aurélien anfangs, würde er sie gar nicht wiedererkennen; denn es gehört zu jenen Absonderlichkeiten des Verliebtsein, die auch Aurélien quälen, daß man nach wenigen Minuten der Trennung das Gesicht der geliebten Person sich nur mehr vage in Erinnerung rufen kann.

Von Anfang an erscheint Bérénice als die schärfste Rivalin jenes Bildes, das Aurélien sich von ihr gemacht hat und zwanzig Jahre lange, die Zeitspanne, während derer sich beide aus den Augen verloren haben, mit sich herumträgt, bis sie sich am Ende des Romans noch einmal wiederbegegnen. Ein gewaltiger, kühner Schnitt, für den es in der Gattungsgeschichte kein Vorbild gibt, führt, zwanzig Jahre überspringend, in die französische Provinz in den chaotischen Tagen des Pariser Exodus 1944. Für einen Roman untypisch, muß dieser hier von seinem großartigen Schlußkapitel her verstanden werden, von wo aus die eher lakonisch angelegte Geschichte erst ihre verstörenden Dimensionen erhält.

Aragon sagte, er habe im "Aurélien" die Situation des ehemaligenFrontsoldaten schildern wollen, der "heimgekehrt ist und in der Gesellschaft, in die er zurückkommt, seinen Platz nicht mehr findet". Aber vielleicht habe er sich auch an dieser Frau rächen wollen, in die er bis zum Unglücklichsein verliebt war, so daß dieser Roman "eine Art Revanche für das Leben ist, die ich mir ziemlich billig gegönnt habe".

Louis Aragon: Aurélien. Claassen, Hildesheim 1997, 717 S., DM 48