Der Autor auf dem Trampolin

Die Degradierung des Autors Günter Grass zum Dichter.

Eigentlich wäre es fast egal, daß fast alle Kritiker, immerhin zwei von drei FAZ-Schreibern, Frank Schirrmacher und Volker Zastrow, nur Zeit-Raddatz hatte sich geschickt verhalten - um nur einige zu nennen - pünktlich zu Günter Grass' 70. Geburtstag die "Blechtrommel" zu einem ragenden Kunstwerk erklärten. Eigentlich, denn man ahnte bereits, daß die Literaturfrömmelei der Großkritiker den allermuffigsten Ansichten Vorschub leisten würde. Und tatsächlich - die Vorarbeiten der Profikritiker sind dem Berufsphilister und Laienkritiker der CDU, Peter Hintze, der die jüngste Kampagne gegen den schon wieder als Nestbeschmutzer titulierten Autor ausgelöst hat, ziemlich nützlich.

Denn sie hatten, Ästhetik und Politik, Kunst und BRD-Wirklichkeit säuberlich auseinanderdividierend, den bedeutsamen Dichter, der die "Blechtrommel" schrieb, neben den bedeutungslosen Intellektuellen, der die Umstände derWiedervereinigung nicht die besten aller möglichen nannte, gestellt und keinen Zweifel daran gelassen, was Hip-Sein auch bedeutet: Den Linksintellektuellen zu den Retrophänomenen zu zählen. Und: Zu den ganz großen Künstlern.

Füllhornartig ergossen sich die Lobreden über Grass, sein Werk und insbesondere über die "Blechtrommel", seinen in den fünfziger Jahren in Paris entstandenen Erstlingsroman, der allerdings in der Lesart seiner Kritiker merkwürdige Dimensionen angenommen hatte. Der Titelheld Oskar Matzerath, eine Mischung aus Protestler und Mitläufer im nationalsozialistischen Deutschland, mußte sich gefallen lassen, daß man ihn in immer entlegenere ästhetische Bereiche abschob, denn vor allem feierte die Literaturkritik sich selbst und ihre eigenen künstlerischen Maßstäbe, ohne allzuviel Rücksichten auf den konkreten Anlaß zu nehmen.

Das maßloseste Exempel für die Ästhetisierung dieser der littérature engagée verpflichteten Prosa, mit der es Grass genau genommen um nichts anderes ging als eine erzählerische Methode zu finden, die nicht der Dämonisierung und Literarisierung des Schreckens zuarbeiten würde, lieferte Frank Schirrmacher in der FAZ. Schirrmacher, der über den Verfasser in der "Blechtrommel" in Erfahrung gebracht hatte, daß Henrik Ibsen die "Urschicht seines Selbstverständnisses" bildet, und weiter feststellte, daß Peer Gynt in den "Tiefenstrukturen der 'Blechtrommel' unübersehbare Spuren hinterlassen" hat, irrte kurzfristig durch die nordische Mythologie ("Nacht, Kiefernwald. Ein Waldbrand hat gewütet. Alles verkohlt, alles Untergang. Gynt, aufs höchste bedroht ...") um, nach einem kurzen Abstecher Richtung Danzig schließlich im Land der Pharaonen anzukommen. "Das ist der Fluch, der Grass am Ende selber traf", ruft der Kritiker aus. "Wie eine Pyramide, der die Wissenschaft ständig neue Schätze entreißt", schreibt Schirrmacher tief beeindruckt von den Kostbarkeiten, die er eigenhändig bergen konnte, "überragt die 'Blechtrommel' alles, was Grass geschrieben und getan hat". Womöglich aber verhält sich alles doch ganz anders, und es ist doch bloß der Fluch Marcel Reich-Ranickis, der Schirrmacher traf.

Daß der Autor seine Bildideen auch aus den Märchenwelten Ibsens genommen hat, erscheint plausibel. Haben sich allerdings die von Schirrmacher verbreitete Kunstnebelfelder gelichtet, muß auch viel Kunstgewerbliches besichtigt werden. Bisweilen erinnern Grass' literarische Methoden an das Handwerk eines phantasiebegabten Illustrators, der komplexe Ideen in eine einfache Bildersprache übersetzt. Sprach Albert Camus vom "Sprung" (in den Glauben) und davon, daß es darauf ankomme, in dem Moment vor dem Sprung zu verharren, dachte sich Grass dazu eine Schwimmbad-Szene aus und stellte Oskar Matzerath auf einen Zehn-Meter-Turm; ließ Camus in "Die Pest" ein paar Ratten als Vorboten der Apokalypse durch Oran huschen, hetzte Grass die ganze sprechende Tierfamilie durch seinen dicken Wälzer "Die Rättin" (und zuletzt über den Bildschirm); erklärte Jean-Paul Sartre die Metapher des "Sich-Entwerfens" zur zentralen Denkfigur des Existentialismus, nahm der Blechtrommler die Redeweise wörtlich und warf sich eben die Kellertreppe hinab. - Man sieht, auch auf der Oberfläche des Romans tut sich eine Menge, was der Tiefenhermeneutiker verpaßt.

Welche Deklassierung die Versetzung des Autors und Intellektuellen Günter Grass in die Abteilung "Künstler, Literaten, Dichter" bedeutet, führte Volker Zastrow in einem Leitartikel der FAZ vor, der erschien, nachdem Grass die Laudatio auf Yasar Kemal in der Frankfurter Paulskirche gehalten hatte, also nachdem es zu der "unentschuldbaren Entgleisung" (Eduard Lintner, CDU) gekommen war. "Nein, Günter Grass hat sich nicht aus dem Kreis der 'ernst zu nehmenden Literaten verabschiedet', um das unglückliche Wort des CDU-Generalsekretärs Hintze aufzugreifen", teilte Zastrow mit, " - Grass könnte dies nicht einmal, wenn er es wollte, denn er hat die 'Blechtrommel' geschrieben." So ist der Künstler nach Zastrows Geschmack idealerweise der Trottel. Linke Intellektuelle? Nein, sagt Zastrow, keiner braucht sie noch, die rechten hätten schließlich schon genug Schaden angerichtet. So funktioniert die FAZ.

Wenn alle anderen sich blamieren, dann darf auch Rudolf Augstein nicht fehlen. Der legte in seinem Aufsatz "Dichters Scham" los: "Wenn Grass sich in der Frankfurter Paulskirche schämt, so dient das weniger einer Verbesserung dieser miserablen Welt; es dient ihm erfolgreich dazu, sich von der realen Welt abzusetzen. Nun ist das ewige Moralisieren eine stumpfe Waffe, es bringt einen als Dichter nicht voran." Das aber im Fall Grass durchaus einen Grund hat, so weiß Augstein, denn der hatte für die "Blechtrommel" nicht den Nobelpreis bekommen, weil die Stockholmer Akademie "sogar den privaten Hintergrund der von ihr Erkorenen akribisch prüfte". Die daraus entstandene "Wurmerei tat ihm nicht gut." Nach einem kurzen Abstecher zum - nur der alte Augstein selbst weiß, was das folgende zu bedeuten hat - "Trampolin", das er "braucht, sich mehr als andere zu Dingen zu bekennen, deren er sich schämt", kommt Augstein dann zu dem, was ihn wirklich an der Sache mit den Kurden und Grass ärgert: "Es ist die fatale Kluft zwischen rednerischer Überzeugtheit und Unkenntnis der Realitäten, die einen ärgerlich stimmt." Denn: "Ist ihm denn völlig unbekannt, daß beide, Türken wie Kurden, unter unseren Grenzzäunen hindurchschlüpfen, um ihren Stellvertreterkrieg hier auszutragen?" Und demnächst vielleicht sogar unter unserem Gartenzaun?