Gezuckt und eingeurnt

Wählen ist staatsbürgerliche Pflicht. Letzten Sonntag war ich als Staatsbürger mit Wohnsitz in Hamburg zur Wahl der Hamburger Bürgerschaft aufgefordert. Wie immer spielte sich das vertraute Ritual ab: Spaziergang, Wahllokal in der Grundschule, Listen- und Kuvertempfang, Kabine, Kugelschreiber (angeleint), Listencheck. Auf der Suche nach der APPD, der Anarchistischen Pogo-Partei Deutschlands, gehe ich die Liste von oben bis unten durch, überfliege die Yogiflieger (Platz 12), die Bibeltreuen Christen (13), das Fluglärm Wahlbündnis e.V. (14). Seit einiger Zeit spiele ich mit dem Gedanken, APPD zu wählen. Überzeugt hat mich - neben den sympathischen Parolen wie "Asoziale an die Macht" oder "Saufen, saufen, jeden Tag nur saufen" - das Wahlversprechen, das einzige, von dem ich mir einen persönlichen Gewinn verspreche: Die APPD will ihre Wahlkampfkostenerstattung - falls sie eine kriegt - ausnahmslos in Freibier umsetzen. Skeptisch bin ich wegen der Frakturschrift auf den Wahlplakaten, die eher zu den Nazis passen würde als zu honorigen Anarchisten. Doch der Zettel bietet keine Alternative, keine antiautoritäre linke Partei, nur eine autoritäre, die PDS. Platz 17, ich hab' sie: voilˆ l'APPD. Ich ergreife den angeleinten Kugelschreiber. Doch irgend etwas stört. Ich habe das Gefühl, nicht allein zu sein in meiner Kabine bei der geheimen Wahl. Zunächst ist es nur ein Flüstern: "Das soll staatsbürgerliche Pflicht sein? Grober Unfug ist das! Eine Stimme für irgendeine übergeschnappte Randgruppe ist eine Stimme gegen Rot-Grün. Eine Stimme gegen die Menschlichkeit. Eine Stimme für die Etablierten. Eine Stimme für die Nazis. Eine Stimme für'n Arsch. Das Stimmengewirr entspringt wahrscheinlich einer Art staatsbürgerlichem Über-Ich, denke ich zu meiner Beruhigung. All die Appelle der Leitartikler, Gewerkschafter, Kirchenmänner und -frauen, die ich in den letzten Tagen gelesen habe, scheinen sich in unsichtbare Energie verwandelt zu haben, die mir jetzt in die Arme fällt. Nun mischen sich laute Stimmen ein, meine Lehrer, meine Weggefährten, meine Mutter: "Alter Kindskopf." Meine Hand schwebt zurück, über die Naturgesetzpartei, die Zukunft der Kinder (10), die Grauen Panther (9), bis sie schließlich über Liste drei (GAL) innehält. Und wieder die Stimmen: "Kasper wie du versauen seit Jahren Rot-Grün!"

In die Stimmen mischt sich jetzt ein ungeduldiges Murren vor der Kabine. Schweißperlen stehen auf meiner Stirn, ich weiß, daß die Sekunde der Entscheidung gekommen ist. Plötzlich geht ein Zucken durch meine rechte Hand, zweimal kurz hintereinander, wie elektrisiert. Mein Blick fällt auf ein X im zehnten Kreis von oben, hinter den Buchstaben APPD. Ein wenig verwirrt falte ich den Zettel, stecke ihn in das Kuvert, schreite gemessen zur Urne, an der nochmals mein Name vorgelesen wird, damit auch alles seine Richtigkeit hat, und urne ein. Beim Sonntagsspaziergang, Teil zwei, dämmert mir, was Adorno mit der zuckenden Hand als Metapher des Nichtidentischen gemeint haben könnte, die das Aufblitzen der Wahrheit inmitten des immertrüben Nebels der Wirklichkeit symbolisiere. Es gibt kein richtiges Kreuz auf dem falschen Zettel, aber etwas zuckt noch.