Keine Ode an die Freude

Nicaraguas rechter Präsident Alemén hat ein Projekt: 50 Jahre liberale Macht. Sandinistenchef Daniel Ortega verhandelt mit ihm über Reprivatisierung - hinter verschlossenen Türen

Nicaraguas Politik ist im Jahr 1997 - so scheint es auf den ersten Blick - von zwei Polen gekennzeichnet. Auf der einen Seite die Große Liberale Partei (GPL) des ultra-konservativen Präsidenten Arnoldo Alem‡n, auf der anderen die ehemals sozialrevolutionäre FSLN unter ihrem Generalsekretär Daniel Ortega. Zwischen beiden

herrscht eine Patt-Situation. Momentan ist in Nicaragua keine politische, militärische, soziale oder ökonomische Kraft in der Lage sich durchzusetzen. So wird öffentlich mit Säbeln gerasselt und auf eine Politik der Konfrontation gesetzt. In diversen Hinterzimmern plaudert es sich leichter. Dort wird Politik gemacht - Politikformen der postmodernen Demokratie angesichts ständig wachsender sozialer Probleme?

Nicht mehr auszuschließen sei der bewaffnete Weg zur Lösung der nicaraguanischen Probleme, verkündete Ortega kürzlich in einem Interview gegenüber der kubanischen Zeitung Juventud Rebelde. Neue Worte des sandinistischen Ex-Präsidenten und ehemaligen Sozialrevolutionärs. Während des Wahlkampfes im vergangenen Jahr klang es noch anders. Ein weißes Hemd ersetzte damals die gewohnte Uniform. Begriffe wie "Friede" und "Vertrauen in Gott" beherrschten Ortegas Rhetorik. Eilends wurde die Parteihymne, die noch von den USA als imperialistischem Staat und "Feind der Menschheit" handelte, gegen Beethovens "Ode an die Freude" ausgetauscht.

Im Wahlkampf setzte die FSLN auf eine breite Koalition aus AgrarproduzentInnen, Ex-Contras und Sandinistas. Zentrale Punkte ihres Wahlprogramms waren Auslandsinvestitionen, Ankurbelung der Landwirtschaft und Ausweitung der Freihandelszonen, außerdem weniger Kürzungen im sozialen Bereich. In den Jahren von 1990 - dem Zeitpunkt der sandinistischen Wahlniederlage - bis 1996 hatte die Partei es nicht vermocht, eine wirksame Opposition zur Politik der sozialen Kürzungen und Strukturanpassungsmaßnahmen der Chamorro-Administration zu entwickeln. Interne Auseinandersetzungen führten zur Abspaltung der Sandinistischen Erneuerungsbewegung (MRS), und das Ansehen der Partei in der Bevölkerung sank. Hinzu kam, daß sich auch die ehemaligen Revolutionäre vor ihrer Machtübergabe an Chamorro und Co. aus dem "Volkseigentum" bedienten. Sie verloren an moralischer Autorität, die sie wesentlich von anderen PolitikerInnen unterschieden hatte.

Ihre führenden Kader sind heute arrivierte UnternehmerInnen mit eigenen Interessen. Doch noch ist die FSLN die stärkste Partei in Nicaragua und Daniel Ortega ihr Generalsekretär. Ihre politische Formel lautet: den Druck der Straße verstärken, die Legitimität der neuen Alem‡n-Regierung wegen der Wahlfälschungen vom Oktober 1996 anzweifeln und auf direkte Verhandlungen der Kontrahenten drängen.

Der Kontrahent Ortegas jedoch, Präsident Alem‡n, ist mächtig und ein geschickter Taktiker. Hinter ihm steht ein breites Parteienbündnis, das sich am 11. Juli in eine geeinte Partei, die Große Liberale Partei, verwandelte. Alem‡n stützt sich auf das miami-kubanische Finanzkapital um den erbitterten Castro-Gegner und Multimillionär Jorge Mas Canosa. Sein Projekt ist einfach gestrickt: Konsolidierung der liberalen Macht für die nächsten 50 Jahre (so ein internes Strategiepapier) und die Ausschaltung der Sandinistas. Kombinieren muß Alem‡n dies mit den Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF), denn Nicaragua ist mit 6,4 Milliarden Dollar eines der Länder mit der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung weltweit.

Die Umsetzung des "liberalen Projekts" zeichnet sich bereits deutlich ab: Nach seiner Amtsübernahme am 9. Januar dieses Jahres ordnete Alem‡n an, in allen öffentlichen Einrichtungen, staatlichen Stellen usw. Sandinistas gegen eigene ParteigängerInnen auszuwechseln. Nicht nur Personen in Vertrauensfunktionen, vielmehr ging es gleichermaßen um Funktionärs- wie Putzstellen.

Es gelang Alem‡n, sämtliche staatlichen Organe wie den Obersten Gerichtshof oder den Obersten Wahlrat unter seinen Einfluß zu bringen. Nur der Oberste Rechnungshof wollte sich in den letzten Monaten nicht fügen und denunzierte Fälle von Korruption und Verschwendung der Regierung. Flugs wurde ihm eine neue Entscheidungskommission vor die Nase gesetzt - "für mehr Effizienz", wie sich Alem‡n dazu äußerte. Bei der ersten Sitzung des Parlaments erreichte er durch eine Koalition mit den neun kleinen Parteien, daß alle wichtigen Funktionen mit Entscheidungsgewalt, wie beispielsweise die des Parlamentspräsidenten und seiner Stellvertreter, in die Hände der Liberalen gelangten. Das Parlament wurde so zur willfährigen Unterzeichnungsinstanz liberaler Gesetzesvorlagen.

In den vergangenen Monaten eskalierten die Auseinandersetzungen - über die umstrittene Reprivatisierungspolitik ehemaligen Staatseigentums, Kürzungen im öffentlichen Haushalt, Erhöhung von Energie- und Transporttarifen sowie die Nicht-Anerkennung der verfassungsmäßig garantierten sechs Prozent des Staatshaushaltes für die Hochschulausbildung. Im April wurde mit Straßenbarrikaden an neuralgischen Punkten der Verkehr in ganz Nicaragua lahmgelegt. Alem‡n lenkte ein und rief zum Dialog zwischen FSLN und Liberalen auf. In 30 Tagen sollte eine Einigung zu diesen drängenden Fragen erzielt werden. Insbesondere der Verbleib jener städtischen Grundstücke und kleineren Ländereien sollte geregelt werden, die in den achtziger Jahren im Rahmen der sandinistischen Agrarreform privatisiert worden waren. AnhängerInnen des Diktators Somoza - 1979 von den Sandinistas gestürzt - sollten ihr ehemaliges Eigentum nicht zurückerlangen. Die 30 Tage vergingen. Es geschah nichts. Offiziell gab die FSLN die Verhandlungen auf.

Im Mai verabschiedete die Regierung das neue Steuergesetz. Es ist integraler Bestandteil des "liberalen Projekts". Die letzten Schutzzölle für inländische Produkte wurden aufgehoben, indirekt die inländische Produktion verteuert. Die Steuerbefreiung für Universitäten, Nicht-Regierungs-Organisationen und Kooperativen wurde abgeschafft. 2 000 UnternehmerInnen, die seit Jahrzehnten das Monopol für die Vertretung ausländischer Firmen haben, verlieren über das neue Gesetz diese Stellung. Die traditionellen Großunternehmerfamilien wie die Casa Pellas, die Gruppe Ter‡n, die Gruppe Milca, die ebenso traditionell ihre eigenen, konservativen politischen Kräfte unterstützen, sind ebenfalls Verlierer dieser neuen Steuergesetzgebung. Profitieren werden ausländische Investoren, und unter diesen vor allem die Gruppe um Alem‡ns Wahlkampfhelfer Jorge Mas Canosa, einige große Agrarproduzenten, Investoren in Weltmarktfabriken, in denen unter härtesten Bedingungen Fertigungsproduktion betrieben wird. Noel Ram'rez, treuer Gefolgsmann Alem‡ns und Direktor der Zentralbank, skizziert den Kurs: "Nicaragua wird sich in eine große Freihandelszone verwandeln." Zudem ist diese Steuerreform eine Eintrittskarte zur Neuverhandlung des Strukturanpassungsprogramms von Weltbank und IWF; der nicaraguanische Staat benötigt Devisen.

Ende Juni, Anfang Juli kam es zu einer neuen Welle von Auseinandersetzungen. Diesmal standen die StudentInnen in vorderster Front. Es kam zu Kämpfen zwischen Sondereinsatzkommandos und Studierenden, in deren Verlauf zwei StudentInnen starben und zahlreiche verletzt wurden. Seit Jahren steht eine Bestimmung der Verfassung im Zentrum des Konfliktes zwischen Studierenden und Staat. Nach dieser sind sechs Prozent des Staatshaushaltes zur Finanzierung der Hochschulbildung vorgesehen. Der Haushaltsentwurf 1997 berücksichtigte diese Regelung, doch der Präsident legte sein Veto ein. Bislang wurde diese Frage nicht entschieden.

Am 18. Juli ergriff erneut die FSLN die Initiative. Sie veröffentlichte ein Grundsatzpapier für ein sogenanntes Nationales Patriotisches Abkommen, in dem sie die sofortige Lösung des Problems der Reprivatisierung, Wirtschaftsinvestitionen, die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie die sechs Prozent für die Hochschulbildung forderte.

Alem‡n konterte mit einem Aufruf zum Nationalen Dialog, an dem handverlesene RepräsentantInnen der nicaraguanischen Öffentlichkeit teilnahmen - nicht jedoch die FSLN. Mit diesem Nationalen Dialog verfolgte Alem‡n vor allem zwei Ziele: Einerseits dem IWF zu signalisieren, daß seine Regierung an politischer Stabilität interessiert ist, andererseits die Opposition auszumanövrieren. Die inhaltliche Zielbestimmung war dementsprechend unscharf umrissen. Drängende gesellschaftliche Probleme sollten gelöst werden. Der Dialog schleppte sich dahin, bis selbst die Beteiligten unruhig wurden. Daraufhin sollten Beschlüsse zu zentralen Fragen mit einfacher Mehrheit gefaßt werden. Daß die Mehrheit beim Nationalen Dialog in Alem‡ns Händen liegt, versteht sich von selbst. Daß unklar ist, in welchen konstitutionellen Kontext dieser pseudo-parlamentarische Nebenschauplatz eingepaßt wird und welche Aussagekraft die hier getroffenen Entscheidungen haben, versteht sich ebenfalls.

Da die FSLN nicht am Nationalen Dialog teilnahm, konnte sie ihre Oppositionsrolle unterstreichen. Doch wenige Tage später wurde bekannt, daß Ortega und Alem‡n seit Februar Verhandlungen zur Reprivatisierung führen - unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Es seien Verhandlungen, bei denen es vorangeht, war aus unterrichteten Kreisen zu vernehmen. Unklar ist, wohin die Verhandlungen führen.

Auch im August streikten die TransportarbeiterInnen erneut. Auch darüber sollte wieder verhandelt werden. Auch diese Verhandlungen ziehen sich hin, derweil Alem‡n weiter Fakten schafft. Ca. 60 Prozent beträgt die Arbeitslosenrate mittlerweile, mindestens 40 Prozent die Analphabetenquote, bei steigender Tendenz.

Zudem droht möglicherweise ein neues wirtschaftliches Chaos. Im März gab die Regierung Alem‡n hochverzinste Staatsanleihen im Wert von umgerechnet rund 200 Millionen Dollar aus, die im November/Dezember fällig werden. Sollten die ausländischen KapitalgeberInnen ihre Dollar auslösen wollen, könnte es zu einem ähnlichen Effekt kommen wie Ende 1994 in Mexiko: Zusammenbruch der Börse, Kollaps der Wirtschaft, und der IWF könnte über eine neue Finanzspritze zusätzliche Auflagen zu denen diktieren, die ohnehin schon im zweiten Strukturanpassungsprogramm für 1998 stehen.

Daß über halbgare Verhandlungen ohne Ergebnisse und Hinterzimmergespräche sowie internationale Auflagen, die direkte negative Folgen für die Versorgungslage der großen verarmten Bevölkerungsmehrheit haben, einzelne Kräfte ungehalten werden und - bei der langen Tradition bewaffneter Auseinandersetzungen - lieber auf ihre Waffen setzen, ist nicht erstaunlich. Zwar in reduzierter Anzahl, aber weiterhin aktiv sind die ehemaligen Contra-Kämpfer im Norden des Landes. Zusätzlich haben sich drei sandinistische Gruppierungen gebildet, die vor allem ebenfalls im Norden und rund um Estel' agieren. Sie sollen insgesamt über zirka 1 000 Bewaffnete verfügen, viele von ihnen mit langer militärischer Erfahrung.

Aber auch das ist eine mögliche Option für die Zukunft Nicaraguas.