Wohnraumüberwachung wirkt Wunder

Im Law-and-Order-Wahlkampf will keiner der Softie sein. Darum kommt jetzt der Große Lauschangriff

Am Schluß ging es nur noch um Details: Eigentlich war sich die große Koalition aus Union und Sozialdemokraten längst einig, daß eine klassische Law-and-Order-Vorlage wie die zum Großen Lauschangriff an den Volksparteien ganz bestimmt nicht scheitern sollte. In dieser Frage trennt der Riß die Parteienlandschaft nicht mehr vertikal, sondern horizontal. Im linksbürgerlichen Spektrum wie im rechtsbürgerlichen haben sich vergleichbare Strukturen durchgesetzt: Beide Volksparteien leisten sich ein Anhängsel, das zumindest teilweise das Fähnlein der bislang noch von der Verfassung garantierten Bürgerrechte eher trotzig denn entschlossen hochhält und modeln gleichzeitig um so entschiedener an den ersten 20 Artikeln des Grundgesetzes - an jenen Sätzen, von denen man noch vor wenigen Jahren bundesdeutschen Pennälern eingebleut hat, daß sie so gut wie unantastbar seien.

Was im Sozialkunde-Unterricht nicht vermittelt wurde: Die bürgerliche Demokratie populistischer Prägung zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie so etwas wie unantastbare Prinzipien nicht kennt. Die gesamte Substanz des Politischen ist gleichzeitig auch politische Substanz, die nach den Erfordernissen des Machterhalts geformt werden kann. Wenn man kleine Mikrofone in anderer Leute Wohnung haben will, dann wird der Grundgesetz-Artikel 13 - "Die Wohnung ist unverletzlich." - eben geändert. "Nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen" durften bislang "Eingriffe und Beschränkungen" gegen dieses Prinzip vorgenommen werden (auf Grund eines Gesetzes übrigens auch "zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder zum Schutze gefährdeter Jugendlicher": In der Nachkriegszeit hatte man noch einen anderen Begriff von "öffentlicher Sicherheit und Ordnung"). Nun soll ein vage formuliertes Verfolgungsinteresse reichen und das Votum eines Gerichts, das keine Möglichkeit hat, die von den Polizeibehörden formulierten Verdachtsmomente zu überprüfen.

Daß das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus geurteilt hat, daß Eingriffe in die Intimsphäre nicht nur einen Verstoß gegen Artikel 13 des Grundgesetzes darstellen, sondern zudem gegen das in Artikel 1 festgelegte oberste Verfassungsprinzip "Die Würde des Menschen ist unantastbar", wen kümmert's? Schon jetzt ist die Bundesrepublik weltweit der Staat mit den meisten Abhöraktionen im Verhältnis zur Bevölkerungszahl. Eine halbe Million Menschen wurden 1996 belauscht, dreimal soviele wie noch 1995. Dazu kommen rund eineinhalb Millionen Auslandsgespräche, die der Bundesnachrichtendienst mitschnitt - ohne richterliche Genehmigung und ohne parlamentarische Kontrollmöglichkeit.

Für dergleichen Aktionen sollen nach dem Willen von Union und SPD künftig Polizisten zu perfekten Kriminellen ausgebildet werden - zu Einbrechern, die noch nicht einmal Spuren hinterlassen. Die Effektivität in der Bekämpfung des bereits etablierten Verbrechens ist mehr als fragwürdig - in Italien und den USA, wo die Wohnraumüberwachung mit denselben Schlagworten durchgesetzt wurde, die auch hierzulande in den letzten Monaten zu hören waren, war die Folge vor allem die Zunahme letztlich unberechtigter Lauschaktionen. Die Zahl der Kriminellen, die durch das massenhafte Abhören überführt wurden, blieb verschwindend gering. Das einzige, was gewonnen wurde, waren Arbeitsplätze für Polizeibeamte: Bis zu 40 Polizisten sind in den USA mit einer einzigen Überwachungsaktion beschäftigt, Kosten von 100 000 US-Dollar sind nicht ungewöhnlich.

Doch das dürfte kaum der Grund gewesen sein, warum führende Sozialdemokraten wie der Bonner Fraktionsvorsitzende Rudolf Scharping entgegen den verbindlichen Beschlüssen ihres eigenen Parteitags nicht nur für das Belauschen von Gesprächen in Privaträumen in die Bresche gesprungen sind, sondern außerdem auch noch für die Installation versteckter Videokameras. Seit Labour in Großbritannien mit einer Mischung aus Sozialpopulismus, gemäßigt liberaler Wirtschafts- und rigider Law-and-Order-Politik wieder an die Macht gelangt ist, haben die sozialdemokratischen Pragmatiker auch hierzulande glänzende Augen bekommen. Was Gerhard Schröder Bild-Zeitungs-kompatibel umzusetzen versucht, das übersetzt Scharping in die leiseren Töne des geheimen Gewerbes. Der Spruch von der "Organisierten Kriminalität" ist noch immer gut, um dergleichen zu begründen.

Aber genau gegen die ominösen grauen Herren in den grauen Anzügen in der grauen Zone zwischen Großkapital und Schwerverbrechen werden die neuen Fahndungsmöglichkeiten überhaupt nichts bringen. Denn so gut kann auch die deutsche Polizei ihre Einbrecher nicht ausbilden, daß dieser Personenkreis - egal, wie groß er nun ist - sich nicht dagegen zu schützen wüßte.

Doch in seltener Eintracht beteuern Bayerns CSU-Innenminister Günther Beckstein und der liberale Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig, es werde schon keinen falschen erwischen, "unbescholtene Bürger" bräuchten vor dem Lauschangriff keine Angst zu haben. Der Jura-Professor Schmidt-Jortzig scheint seine Hausaufgaben nicht gemacht zu haben: Als unbescholten galt bislang in Rechtsstaaten, wer nicht verurteilt ist. In den USA, die der Minister gerne als Beispiel für das Wundermittel Wohnraumüberwachung anführt, wird nur einer von acht Abgehörten danach von einem Gericht für schuldig befunden. Eines hatten die Ermittlungsbehörden immerhin von dem ganzen Aufwand: Kilometerweise Bandmaterial, aus dem sich bestimmt irgendwann noch mal das eine oder andere ergibt, wenn sich jemand die Arbeit macht.