Die kapitalistische Struktur der globalen Landwirtschaft führt zu Hunger

Handel und Hunger

Klimawandel, Lieferkettenprobleme und der Krieg in der Ukraine verschärfen den Hunger in armen Ländern. Doch die tiefere Ursache der Hungerkrise liegt in der Struktur der globalen Landwirtschaft, die den Kapitalinteressen der reichen Länder entspricht.

Fast 15 Millionen Sudanesen leiden an Hunger, schon in wenigen Wochen könnten es sogar noch drei Millionen mehr sein. Diese Warnung äußerte der für das Land zuständige Vertreter des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP), Eddie Rowe, gegenüber Voice of America. »Wir stehen kurz davor, unsere Aktivitäten einstellen zu müssen«, warnte er. Dem UN-Programm, das im Sudan unter anderem mehrere Millionen Schulkinder und 600 000 Menschen in Flüchtlingslagern mit Essen versorgt, fehle das Geld, um angesichts stark gestiegener Nahrungspreise die Versorgung weiter in vollem Umfang zu gewährleisten.

Der Sudan hatte in den vergangenen Jahren zeitweise 80 Prozent seiner Weizenimporte aus Russland und der Ukraine bezogen. Er war also eines der am stärksten betroffenen Länder, als die russischen Invasoren den Export von ukrainischem Getreide mit einer Seeblockade unterbanden. Seit August erlaubt Russland nach einem mit Vermittlung der Türkei ausgehandelten Abkommen wieder die Verschiffung von ukrainischem Getreide. Doch die weltweite Hungerkrise bleibt nach wie vor bedrohlich. UN-Generalsekretär António Guterres befürchtet, dass die größte Hungerkatastrophe seit 1945 bevorstehen könnte.

Bereits im Lauf der Covid-19-Pandemie war die Anzahl der hungernden Menschen weltweit von 628 Millionen im Jahr 2019 auf zwischen 700 und 828 Millionen im Jahr 2021 gewachsen.

Bereits im Lauf der Covid-19-Pandemie war der Welternährungsorganisation der UN zufolge die Anzahl der hungernden Menschen weltweit von 628 Millionen im Jahr 2019 auf zwischen 700 und 828 Millionen im Jahr 2021 gewachsen; ausschlaggebend dafür war in erster Linie, dass die weltumspannenden Lieferketten brüchig wurden. Der Klimawandel verschärft die Situation, denn in seiner Folge führen Dürren, Überflutungen und Sturm­katastrophen vielerorts zu erheblichen Ernteausfällen. Zudem haben die in Folge des Ukraine-Kriegs stark gestiegenen Energiepreise die Düngemittel und den landwirtschaftlichen Maschineneinsatz verteuert.

Selbst alle drei Katastrophen zusammengenommen verschärfen zwar die Krise, sind aber nicht ihre eigent­liche Ursache. Denn auch ohne solche Ka­tastrophen verunmöglichen es die Strukturen der globalen Landwirtschaft und des Welthandels, die gesamte Menschheit angemessen zu ernähren.

Als Grundübel ist hier der weltweite Freihandel zu nennen, der dafür sorgt, dass die Industrieländer Absatzmärkte für ihre Exporte und zugleich Zugang zu den Rohstoffen aus weniger entwickelten Ländern haben. Deshalb wurden und werden rigoros Marktöffnungen für die Produkte des Nordens erzwungen. Wie beispielsweise die Organisation Brot für die Welt kritisiert, gilt das auch für Nahrungsmittel, deren Produktion in reichen Ländern wie den EU-Staaten zudem noch mit staatlichen Subventionen gefördert wird. Die in den Industrieländern hocheffizient auf der Grundlage von Intensivlandwirtschaft und Massentierhaltung produzierten Lebensmittel, beispielsweise Hühnerfleisch, werden zu Niedrigstpreisen auf die Märkte der südlichen Länder geworfen, verdrängen die dort hergestellten Produkte von den Märkten und treiben damit die Kleinbauern in den Ruin. Den Landwirten bleibt dann häufig nur die Möglichkeit, Produkte für den Export anzubauen, beispielsweise Kaffee, Tabak, Zuckerrohr oder Kautschuk.

Die Landwirte sind dabei zu einer Produktionsweise gezwungen, bei der sie das Saatgut teuer einkaufen müssen; meist hybride Hochleistungssorten, die nicht dazu geeignet sind, einen Teil der Ernte als Saatgut für das nächste Jahr aufzubewahren. Das Saatgut muss stattdessen jedes Jahr teuer neu eingekauft werden. Die betreffenden Sorten wachsen zwar schnell und bringen hohe Erträge, sind aber zugleich auf große Mengen von Düngemitteln und Pestiziden angewiesen. Auch die müssen von den Bauern bezahlt werden. Ihnen bleibt keine andere Wahl, denn die Abnehmer verlangen hohe Produktionszahlen und auch internationale Förderprogramme sind häufig an entsprechende Vorgaben gebunden, kritisierte kürzlich Stig Tanzmann, Agrarexperte des Hilfswerkes Brot für die Welt, in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau.

Oft müssen die Bauern Kredite aufnehmen, um die Vorauskosten zu stemmen. Fällt die Ernte dann schlechter als erwartet aus oder sinkt der Weltmarktpreis, drohen Verschuldung und Verlust des eigenen Landes. Selbst wenn alles gut läuft, sind die Einkünfte eher bescheiden. Beim »Forum Entwicklung«, das im März in Frankfurt am Main stattfand, beschrieb Sonia Lehmann von der Gesellschaft für in­ternationale Zusammenarbeit (GIZ) die Einkünfte einer typischen Familie in der Côte d’Ivoire oder in Ghana. Bearbeitet diese eine drei bis fünf Hektar ­große Plantage, komme sie auf rund 180 Euro Einkommen im Monat, während das existenzsichernde Einkommen in diesen Ländern circa 450 Euro beträgt. Das führe nicht nur zu Not und Mangelernährung, sondern auch zu Kinderarbeit, weil die Bauern von ihren Einnahmen keine Helfer bezahlen können, sondern auf die Mithilfe des eigenen Nachwuchses angewiesen sind.

Noch verheerender wirkt die Praxis des sogenannten land grabbing. Nach der Finanzkrise von 2008 hat das glo­bale Finanzkapital die Äcker der Welt als Geschäftsfeld entdeckt. Wie Kurt Langbein, Filmemacher und Autor des Buchs »Landraub: Die globale Jagd nach Ackerland«, schon vor einigen Jahren berichtete, schließen Banken, Pen­sions- und Investmentfonds sowie große Agrarkonzerne mit afrikanischen, asiatischen und südamerikanischen Regierungen häufig Geschäfte ab, bei ­denen große Landflächen für 50 bis 100 Jahre gepachtet werden. Inzwischen ist von diesen Verpachtungen eine Gesamtfläche betroffen, mit der man laut der britischen NGO Oxfam eine Milliarde Menschen ernähren könnte. Statt Nahrungspflanzen werden auf den betreffenden Flächen meist Pflanzen zur Gewinnung von Tierfutter und Fahrzeugkraftstoff oder Kautschuk in großem Stil angebaut.

Langbein zufolge zielen die Landübernahmen häufig auf Flächen, die zuvor erst von einheimischen Kleinbauern urbar gemacht wurden. Doch werde das Land meist »bestandsfrei« übergeben, was nichts anderes bedeuten kann, als dass die Kleinbauern zuvor gewaltsam vertrieben und die Häuser mit Planierraupen zerstört oder einfach niedergebrannt werden. Langbein schätzt, dass auf diese Weise jedes Jahr Hunderttausende Menschen mit dem Boden auch ihre Heimat und ihre Lebensgrundlage verlieren. Zwar argumentieren viele Regierungen, durch die ausländischen Investitionen in eine oft stärker mechanisierte Landwirtschaft auf größeren Flächen würden auch Beschäftigungsmöglichkeiten entstehen, doch diese gehen zu Lasten von Kleinbauern und Viehzüchtern. Erzwungene Landflucht oder Emigration sind die Folge. Eine andere Folge des land grabbing ist die Aneignung zuvor naturbelassener Flächen. So werden große Teile des Regenwaldes für den Anbau von Ölpalmen gerodet, um den weltweiten Bedarf an Palmöl zu decken.

Zwar können kapitalstarke Agrarkonzerne oft effizienter (wenn auch meist umweltschädlicher) als Kleinbauern produzieren. Die Folge ist jedoch eine Wertabschöpfung zu Gunsten der reichen Industrieländer. Der jährlichen Entwicklungshilfe von über 100 Milliarden US-Dollar steht ein vielfach höherer Betrag gegenüber, der aufgrund von Schuldenrückzahlungen, irregulären Finanztransfers korrupter Führungsschichten und Gewinnabschöpfungen internationaler Konzerne in die Gegenrichtung fließt. Der Politikwissenschaftler Aram Ziai von der Universität Kassel schätzt sogar, dass dieser Betrag etwa das Zehnfache der Entwicklungshilfebetragen könnte. Dieser Zusammenhang wird in vorherrschenden Diskussionen über die wirtschaftliche Entwicklung ärmerer Länder systematisch ausgeblendet.

Nicht zuletzt ist die derzeitige globale Agrarproduktion mit ihrer starken Konzentration auf Weizen, Mais, Reis und Soja, die zusammen über die Hälfte aller Nahrungspflanzen stellen, einseitig und stark zentralisiert. Diese Lebensmittel werden nur von sehr wenigen Ländern exportiert und zu einem großen Anteil von nur fünf Unternehmen gehandelt. Das Ergebnis ist ein störanfälliges System, das auf reibungslos funktionierenden Transport angewiesen ist. Dabei können schon mittelschwere Irritationen – und erst recht ein Krieg und eine Pandemie – enormen Folgen zeitigen.

Die Lösung für das Welternährungsproblem kann nicht in einer simplen Ausweitung der Produktion liegen, denn es ist gerade die Kombination aus Abhängigkeit von Weltmarktimporten und Armut, die zu Hunger in vielen Ländern führt, kein allgemeiner Mangel an Nahrungsmitteln auf der Welt. Wichtig wäre, das Land zurück in die Hände der lokalen Produzenten zu geben. Deren Erzeugnisse müssten außerdem vor der Billigkonkurrenz aus dem Norden geschützt werden, die ­Lebensmittelproduktion müsste nachhaltiger und vielfältiger werden. Wenn Nahrungsproduktion wieder lokal stattfindet, kann eine Unterbrechung der Lieferketten nicht mehr so leicht Hungersnöte auslösen. Die Kautschuk-, Palmöl- und sonst wie auf Industrievorprodukte aus­gerichteten Plantagen müssen Anbauflächen für verschiedene Nahrungspflanzen weichen. Flankiert werden muss das Ganze durch die Garantie verlässlicher Landnutzungsrechte für die Kleinbauern. Ferner würde eine dras­tische Reduktion der Tierzucht es erlauben, statt Futterpflanzen Nahrungsmittel anzubauen, die ohne den sehr ­ineffektiven Umweg über das Fleisch der menschlichen Ernährung dienen; und auch die Gewinnung von Treibstoffen aus Nahrungspflanzen nimmt große Agrarflächen in Anspruch.

Die derzeitigen Diskussionen über eine Reaktion auf die Hungerkrise drehen sich vor allem um finanzielle Hilfsprogramme, um armen Ländern zu helfen, den Import von Grundnahrungsmitteln zu finanzieren. Die Wurzeln der Hungerkrise werden dadurch nicht berührt; denn die liegen eben darin begründet, dass an sich fruchtbare Länder überhaupt Grundnahrungsmittel importieren müssen.