Pro und Contra Notlüge

Die Notlüge

»Und? Wie war ich?« Und was ist noch gleich das höchste Gut? Was taugt die Wahrheit von heute, wenn sie die Lüge von morgen sein kann? Aber wen schützt man mit der Notlüge außer sich selbst? Heiko Werning führt uns die Abgründe von Ansprüchen und Wirklichkeiten und diskutiert mit seinem unerbittlichsten Widersacher: sich selbst.
Disko Von

Contra Notlüge

Auch wenn wir nicht immer abschließend klären können, was die Wahrheit ist: Sie ist vorhanden und zumutbar und wir müssen uns ihr stellen.

Von Heiko Werning

»Die Wahrheit ist das höchste Gut«, postulierten die MI6-Agenten Fox Mulder und Dana Scully in der Fernsehserie »Akte X«. Die Suche nach Wahrheit ist eine Triebfeder der menschlichen Entwicklung – natürlich neben dem Wunsch nach Fußmassagegeräten, Staubsaugrobotern und veganen Pro­tein-Shakes (Schoko), auch das gehört zur Wahrheit.

Meinungen gibt es viele, doch schwierig wird es, wenn man sich auf die zugrundeliegenden Fakten nicht mehr einigen kann. Deshalb gibt es die Wissenschaft, die manifeste Ausprägung unserer Wahrheitssuche. Wahr ist, was man überprüfen kann, was kritischer Betrachtung standhält. Es ist sinnlos, noch immer darüber zu streiten, ob es einen menschengemachten Klimawandel gibt – dass dem so ist, ist, nach allem, was wir wissen, die Wahrheit. Wie die Evolution. Oder die Tatsache, dass zur Inaugurationsfeier von Donald Trump nicht die größte jemals dort gesehene Menschenmenge zusammenkam. Wer »alternative Fakten« in die Diskussion einbringt, sprengt das Fundament jeder sinnvollen Auseinandersetzung. Oder ist einfach sehr dumm. Oder »Querdenker«. »Unite behind the science« lautet daher der Schlachtruf der Bewegung Fridays for Future. Es ist die denkbar progressivste Formel.

Die Notlüge schützt nur den Lügner, sie dient einzig seiner Bequemlichkeit. Welche Verheerungen sie langfristig anrichtet, ist ihm egal.

Totalitarismus wittern Kritiker, wenn eine einzig gültige Wahrheit postuliert wird, weil jeder abweichende Gedanke unterdrückt werde. Schließlich sei die Wahrheit von heute oft genug die Lüge von morgen. Einst galt als wahr, dass die Erde eine Scheibe sei. Das glauben selbst heute noch manche Wahrheitsrelativierer, woran man sehen kann, was dabei herauskommt, wenn man sich nicht den Tatsachen beugt, zum Beispiel der, dass sich entfernende Schiffe hinter dem Horizont verschwinden, ihre Masten aber noch länger zu sehen sind. Dass wir die Wahrheit in vielen Fällen nicht abschließend kennen, heißt noch lange nicht, dass sie nicht existiert.

Im Privaten ist es nicht anders. »Wahrheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr«, behauptete Goethe einst keck, und tatsächlich handelt es sich bei ihr eben oft auch um »eine unbequeme Wahrheit« (Alice Schwarzer). Besser scheint es manchem, sie zu verschweigen oder zu ­beschönigen. Wer Kinder hat, kennt das Bedürfnis, diese in Watte zu packen. Wer mag dem Nachwuchs schon die Härten der Welt zumuten? Es ist doch nur vorteilhaft, wenn das Kind glaubt, dem Meerschweinchen gehe es seit Jahren blendend, auch wenn es bereits das fünfte Tier ist, das heimlich ausgetauscht wird. Doch was ist damit gewonnen? Früher oder später wird das Kind mit der Unabwendbarkeit des Todes konfrontiert – umso härter, je länger es bis dahin verschont blieb. Abgesehen von dem Vertrauensverlust, wenn es beim Graben im Garten auf ein veritables Kleinsäugermassengrab stößt.

Auch in persönlichen Beziehungen führt Unwahrheit regelmäßig in die Katastrophe. Menschen, die monogame Beziehungen führen, reagieren im Allgemeinen verletzt, wenn der Partner fremdgegangen ist. Wenn man ­ehrlich darüber spricht, kann Heilung gelingen. Oft ist es aber irreparabel, wenn fortwährender Betrug eines ­Tages auffliegt. Dann hilft alles Bitten und Flehen nicht mehr, denn »wer einmal lügt, dem glaubt man nicht«, wie schon George W. Bush resigniert feststellte.

Oft hatten wir bei den Lesebühnenveranstaltungen, an denen ich mitwirkte, junge Autoren oder Lieder­macher zu Gast, deren Darbietungen schrecklich waren. Dennoch versicherten ihnen meine wohlmeinenden Kollegen stets, dass alles sehr gut gewesen sei. Für den Abend war das angenehm – der Gastkünstler war glücklich, der Schmerz seiner Beiträge nach wenigen Minuten überstanden, danach trinkt man sich sowieso alles schön. Nur leider fragten die derart verhätschelten Künstler wieder und wieder nach Gastauftritten, die dann jedes Mal genauso furchtbar waren. So verzweifelte der Künstler über die Jahre an der Welt, denn obwohl er sich so bemühte und die Kollegen ihm immer ein positives Feedback gaben, wollte einfach kein Zuschauer zu seinen Solo-Shows kommen und kein Verlag seine Bücher drucken. Was dann am Ende nur daran liegen konnte, dass die amerikanische Unterhaltungsindustrie alle verblödet hat, um ihre kapitalistischen Ziele durchzudrücken, gegen die der Künstler weiter tapfer ansang.

Die Notlüge, so wird argumentiert, schütze andere vor Verletzungen, sei also Ausdruck von Empathie und Verantwortung. In Wahrheit aber schützt sie nur den Lügner, sie dient einzig seiner eigenen Bequemlichkeit. Denn welche Verheerungen sie langfristig anrichtet, ist ihm ganz egal, solange er für den Augenblick seine Ruhe hat. Doch es wird nichts nützen. Denn »die Wahrheit ist irgendwo da draußen«, wie Friedrich Hebbel erkannte. Entkommen können wir ihr nicht. Wir müssen uns ihr stellen.

 

Pro Notlüge

Die Notlüge beugt unnötigen Grausamkeiten, gebrochenen Herzen und Sinnkrisen vor. Sie ist die eigene Wahrheit, derer man sich versichern möchte.

Auch von Heiko Werning

»Die Wahrheit ist das höchste Gut«, postulierte der Schriftsteller Friedrich Hebbel. Die Suche nach ihr ist die Triebfeder der menschlichen Entwicklung – doch schon das ist gelogen, denn die meisten Menschen wollen einfach nur eine möglichst gute Zeit. Welche Wahrheit sie in Wirklichkeit suchen, verrät uns Google. Gibt man dort den Suchbegriff »Die Wahrheit« ein, liefert einem die Autovervollständigung ganz ungeschminkt die häufigsten User-Anfragen: »Die Wahrheit übers Erben«, »Die Wahrheit über Petra Bracht«, »Die Wahrheit stirbt zuerst« und »Die Wahrheit über 5G«.

Wem geht es besser? Den Fridays-for-Future-Kids, die um die Wahrheit des Klimawandels wissen, oder ihren Altersgenossen, die sie ignorieren? Die einen versauen sich ihr Leben, indem sie sich immerzu geschmacklose Kichererbsenbratlinge auf den Grill legen und sich allen Ernstes einreden, eine Fahrradtour durch das Weserbergland sei ebenso schön wie eine Rucksackreise durch Südamerika. Die Wahrheit lautet: Sie ist es nicht. Die anderen genießen die beste Zeit ihres Lebens – und werden am Ende immerhin womöglich nicht zu irgendwelchen heimatverliebten Identitätsknalltüten, die eifrig darüber wachen, dass sich bloß nichts Fremdes in ihre Welt mischt, und Schnappatmung bekommen, wenn sich jemand einen Traumfänger übers Bett hängt, obwohl er nicht in direkter Linie von ­einem Anishinabe-Schamanen abstammt.

Der Wahrheitsdogmatismus nützt nur dem, der seine Wahrheit sagt. Welche Verheerungen er bei anderen anrichtet, ist ihm ganz egal.

Was nützt die beständige Konfrontation mit der Wahrheit, wenn man die Dinge doch nicht ändern kann? Man kann natürlich kirchentagskompatibel darauf hoffen, dass, wenn nur jeder bei sich selbst anfängt, sich alles zum Besseren wende. Dumm nur: Damit macht man sich ebenso etwas vor wie diejenigen, die die Wahrheit schon eine Stufe früher ausblenden, wenn sie ein saftiges Steak genießen oder den nächsten Transkontinentalflug buchen.

Im Privaten ist es nicht anders. »Und? Wie war ich?«, fragen Menschen einander angeblich gerne im Bett, und wiewohl mir selbst diese Frage nie zu Ohren oder über die Lippen kam, sie also womöglich schlicht eine Lüge von Drehbuchautoren oder Cartoonisten ist, würde ich doch sehr nachdrücklich darauf beharren, dass ohnehin niemand je an ihrer ehrlichen Beantwortung interessiert gewesen ist. Wer so fragt, möchte nicht die objektive Wahrheit erfahren, sondern sich seiner ganz eigenen Wahrheit versichern. Welchen Grund außer Grausamkeit könnte es geben, dem Geliebten daraufhin mitzuteilen, dass man schon weit Aufregenderes zwischen den Laken erlebt habe, er aber dennoch ein guter Typ sei, mit dem sich gut kuscheln lasse und der zudem ganz gut zu kochen verstehe? Dann doch lieber lügen.

Als unser Sohn klein war, hing er inbrünstig an einem Kuschelfrosch, er war sein Ein und Alles. Überall hin musste das Stofftier ihm folgen, was natürlich die erhebliche Gefahr des Verlusts barg. Daher hegten wir eine kleine Kollektion von Fröschen, die wir in regelmäßigen Abständen austauschten, damit die Lüge im Fall des Falles nicht durch den abweichenden Abnutzungsgrad auffiel. »Ihr betrügt euer Kind!«, warf eine Bekannte uns vor, die ihn also lieber mit gebrochenen Herzen gesehen hätte als mit falschem Frosch, der doch aber für ihn weiterhin der richtige war.

Oft hatten wir bei den Lesebühnenveranstaltungen, an denen ich mitwirke, junge Autoren oder Liedermacher zu Gast, deren Darbietungen schrecklich waren. Dennoch versicherte ich ihnen häufig, dass alles sehr gut gewesen sei. Für den Abend war das angenehm – der Gastkünstler war glücklich, der Schmerz seiner Beiträge nach wenigen Minuten überstanden, danach trinkt man sich sowieso alles schön. Was soll’s also? Wem sollte die Verletzung nutzen? Hätte ich gesagt, was ich denke, er wäre womöglich in eine tiefe Sinnkrise gestürzt, hätte vielleicht die Kunst an den Nagel gehängt und stattdessen in der nächsten Werbeagentur angeheuert. Das kann ja nun auch niemand wollen. Und was bedeutet schon meine Meinung? Es gibt ja offensichtlich auch Menschen, die Juli Zeh gut finden.

Auch »eine unbequeme Wahrheit« (Al Gore), so wird argumentiert, muss ausgesprochen werden. Was impliziert, man mache es sich bequem, wenn man zur Notlüge greift. In Wahrheit dagegen nützt der Wahrheitsdogmatismus nur dem, der seine Wahrheit sagt. Er folgt ohne Rücksichtnahme auf andere seinem eigenen Ideal. Hauptsache, er wird seinem eigenen Anspruch gerecht. Welche Verheerungen er bei anderen anrichtet, ist ihm ganz egal.

»Die Wahrheit ist irgendwo da draußen«, wie uns die Fernsehserie »Akte X« schon lehrte. Manchmal ist es für alle am besten, wenn sie dort auch bleibt.