Linkswende in Lateinamerika? Der Soziologe Dieter Boris dämpft die Euphorie

»Das ist alles noch recht fragil«

Die lateinamerikanische Rechte geht mit der Zeit und bleibt einflussreich. Auch mögliche wirtschaftliche Probleme setzen linken Regierungen Grenzen.
Interview Von

Nach den Präsidentschaftswahlen in Argentinien, Peru, Honduras und Chile sprechen Beobachter von einer neuerlichen Linkswende in Lateinamerika, die sich dieses Jahr in Kolumbien und Brasilien fortsetzen könnte. Sie selbst haben dem Kontinent ab 2014/2015 eine Rechtsentwicklung attestiert. Wie kommt es, dass diese nun anscheinend gestoppt ist?

Von 2014 bis 2019 war die wirtschaftliche Entwicklung praktisch in allen ­lateinamerikanischen Ländern sehr schwach. Die Wachstumsrate lag im Durchschnitt bei 0,5 Prozent jährlich, das geringste Wachstum seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Gleichermaßen sind die Pro-Kopf-Einkommen im Durchschnitt gesunken. Die Erfolge der Mitte-links-Regierungen in Bezug auf ­Einkommenssteigerung, Ungleichheits- und Armutsabbau sowie in der Alphabetisierung wurden dadurch konterkariert. Das hat sich durch die Covid-19-Krise und die damit einhergehenden ökonomischen Krisenerscheinungen weiter verschlimmert. Bei ei­nigen rechten Regierungen, wie der von Sebastián Piñera in Chile oder auch der in Peru, hat sich abgezeichnet, dass sie diese Krise nicht in den Griff bekommen – es häuften sich Fälle von Korruption.

»Bei grundlegenden Veränderungen ist mit energischer Gegenwehr zu rechnen.«

Den ab 2019 aufkommenden Protestbewegungen in Kolumbien, Chile, Ecuador oder auch Peru wurde mit ­äußerster Repression begegnet. Piñera selbst sagte damals: »Wir müssen Krieg gegen diesen Feind führen.« Das hat dazu geführt, dass das linke Potential, dass ja durch die Rechtswende nicht verschwunden war, wieder zusammengefunden hat. Bemerkenswert war, dass sich verschiedene Strömungen vereint haben, die sonst relativ getrennt waren: Indigene Bewegungen, Frauenbewegung, Schüler- und Studierendenbewegung, ökologische Protestgruppen und auch die Rentnerbewegung haben einen gemeinsamen Feind attackiert.

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