09.12.2021
Das Buch »Beim Wort genommen« über die NS-relativierenden Aussagen von Joseph Beuys

Beuys spricht Deutsch

In seinem Buch »Beim Wort genommen« unterzieht der Kunsthistoriker Ron Manheim vor allem die Äußerungen von Joseph Beuys einer kritischen Betrachtung. Die Gruppe »Beuys behind the scenes« geht in ihrer Kritik am Postnazismus des Künstlers noch weiter.

1937 publizierte Leo Löwenthal in der Zeitschrift für Sozialforschung den Aufsatz »Knut Hamsun. Zur Vorgeschichte der autoritären Ideologie«. Er identifiziert darin die kleinbürgerlichen Elemente in Hamsuns literarischem Werk: »Die Ruhe in der Natur, zu der die bürgerlichen Leseschichten mit Hamsun herüberdämmern möchten, ist bloßer Schein; in der Realität erweist sie sich als Industrie- und Kriegslärm der autoritären Herrschaft.« Löwenthal betonte später in dem autobiographischen Gesprächsband »Mitmachen wollte ich nie« gegenüber Helmut Dubiel mit einem gewissen Stolz, dieser Aufsatz sei auf einen Streit mit seinem In­stitutskollegen Herbert Marcuse zurückgegangen, der Hamsun verteidigt habe. Dubiel wiederum attestierte dem Aufsatz eine »enorme prognostische Kapazität«, denn Löwenthal habe Hamsuns faschistische Positionen erkannt und entlarvt, ehe diese offenkundig wurden.

Ende der dreißiger Jahre gehörte auch der Künstler Joseph Beuys zu den Lesern von Hamsuns Büchern. Dass seine Lektüre sich von der Löwenthals deutlich unterschied, kann man zwar nur mutmaßen, es liegt aber nahe, wenn man sich anschaut, wie unreflektiert Beuys Elemente aus dem Nationalsozialismus in sein Denken übernommen hat. Das zeigt Ron Manheim in seinem kleinen Band »Beim Wort genommen«. Manheims Anspruch ist ein dezidiert ideologiekritischer. Er nimmt Beuys’ größtenteils bereits zu Lebzeiten publizierte Äußerungen aus Interviews und Gesprächen ernst, deutet und kontextualisiert sie. Damit will er schließen, was er als eine Lücke in der Beuys-Forschung betrachtet. Deren Defizite belegt er in den Fußnoten auch reichlich. Sie nehme entweder einseitig Beuys in Schutz und entschuldige ihn, oder sie attestiere ihm in kritischer Perspektive übertrieben ein kohärent nationalsozialistisches Weltbild und völkisches ­Denken.

Über den westlichen Kapitalismus und das gesell­schaftliche Leben äußerte Beuys in einem Gespräch 1982: »Auschwitz existiert nach wie vor, nur in anderer Form.«

Besonders der Band »Flieger, Filz und Vaterland« von Frank Gieseke und Albert Markert hatte Beuys 1996 unnachgiebig und, wie Manheim aufgrund der »suggestiven Bebilderung« meint, »fragwürdig« einseitig kritisiert. Trotzdem würdigt Manheim das Buch als einen Augenöffner, gerade in Opposition zu der »verschreckten Abwehrreaktion«, die er bei Kunsthistorikern feststellt, die sich institutionell mit Beuys beschäftigen müssen – wie es auch für Manheim selbst galt. Er baute das Joseph-Beuys-Archiv am Museum Schloss Moyland mit auf. Zwar bekennt er, seine Bewunderung für Beuys’ Kunst sei durch den kritischen Blick auf die Äußerungen nicht getrübt, aber bei deren Einordnung ist er sehr genau. Manheim erkennt Beuys’ widersprüchliche Persönlichkeit an. Die Gedanken des Künstlers will er von seinem Werk trennen. Entsprechend betrachtet er in seinem Buch kaum Kunstwerke, mit Ausnahme derjenigen, die sich unmittelbar der Shoah widmen: »Auschwitz Demonstration« und »KZ = Essen 1« und »KZ = Essen 2«.

Dass Beuys in »Auschwitz Demon­stration«, einer Vitrine, in der allerlei disparate Objekte zu sehen sind, ­neben seinen typischen Materialien wie einem Fettklumpen auch eine tote Ratte platzierte, zeigt, wie perfide das nationalsozialistische Denken bei ihm nachwirkte. Ratten als Ungeziefer waren im Nationalsozialismus ein Synonym für Jüdinnen und Juden. Manheim interpretiert die Ratte bei Beuys als »stumpfe Abscheulichkeit«. Plumper sind nur die Shoah-Relativierungen, die Beuys in Interviews äußerte. Den Menschen »im heutigen Wohlstand« gehe es schlimmer »als den Nazi-Opfern im KZ«, paraphrasierte ihn Dieter Koepplin 1976 in einem Gespräch. Über den westlichen Kapitalismus und das gesellschaftliche Leben äußerte er in einem Gespräch 1982: »Au­schwitz existiert nach wie vor, nur in anderer Form.«

Diese unverhohlene Verharmlosung des industriellen Massenmordes an den europäischen Juden reiht sich ein in Beuys’ jahrzehntelange Übernahme von nationalsozialis­tischem Vokabular und Denkfiguren. Ausführlich betrachtet Manheim die retrospektive Einordnung von Beuys’ Schulzeit und Kriegsdienst sowie die Mythenbildung um seine Genese als Künstler. Er entlarvt, wie Beuys das Schicksal jüdischer Mitschüler ignorierte, Antisemitismus leugnete und gleichzeitig diejenigen Lehrer entschuldigte, die nachweislich überzeugte Nazis waren. Das ging so weit, dass Beuys noch im Jahr 1980 in einem Interview mit Penthouse kundtat, dass er seine ehemaligen Lehrer, Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg, die auf den Versailler Vertrag schimpften, »auch noch heute verehre«.

Die sogenannte Tatarenlegende, wonach Beuys als Wehrmachtsoldat 1944 nach einem Stuka-Absturz auf der Krim von Tataren gerettet worden sei, verbannt Manheim wie andere Mythen in die Fußnoten. Stattdessen zeigt er, wie Beuys’ Sozialisation in der Hitlerjugend ihn auch noch in den achtziger Jahren das Schulwesen der Bundesrepublik als »bolschewisiert« bezeichnen ließ und dass er im Versailler Vertrag eine Ursache des Zweiten Weltkriegs sah. Sein mindestens strukturell antisemitischer Antiintellektualismus führte zu dem Urteil, die »Universitätsprofessoren« seien »schuld an beiden Weltkriegen«. In klassisch revisionistischer Täter-Opfer-Umkehr behauptet er: »Dieser Jahrgang ist systematisch ausgerottet worden«, und spricht damit in der Sprache des »Dritten Reichs« über seine Klassenkameraden, die wie er bei der Wehrmacht waren – und nicht über diejenigen, die von den Deutschen tatsächlich systematisch vernichtet wurden.

Auch sein Engagement für die Grünen verschleiert nicht seinen Antiparlamentarismus. Er sprach mehrmals von »Scheißpolitikern« und wollte keine Gefahr für die Demokratie erkennen, wenn aufgrund einer Volksabstimmung »für eine Legislaturperiode die faschistische Bewegung das Recht bestimmen« würde. »Ja, also wollen Sie die Freiheit der Menschen ernst nehmen oder nicht?« lautete seine lapidare Antwort auf ­einen entsprechenden Einwurf bei einer Diskussion darüber, ob Volks­abstimmungen praktikabel seien oder nicht. Dazu passt, dass er, bevor er sich den Grünen in ihrer Gründungsphase anschloss, für die national-neutralistische AUD (Aktions­gemeinschaft Unabhängiger Deutscher) kandidiert hatte, die sich 1980 zugunsten der Grünen auflöste.

Manheim geht es um eine differenzierte Darstellung, er verzichtet explizit auf eine psychologische Deutung oder eine Kontextualisierung der Kunstwerke und lässt auch deren Rezeption außen vor. Dabei lässt er kaum ein gutes Haar an Beuys, auch wenn er zu dem Ergebnis kommt, bewusste völkische Ideologie sei in Beuys’ Denken und Werk nicht unmittelbar zu belegen.

Das sieht Rolf Famulla anders, der wie Jutta Ditfurth, Roger Behrens und andere an dem Projekt »Beuys behind the scenes« beteiligt ist, das sich als »kritische Ergänzung« zum derzeitigen Beuys-Jahr anlässlich des 100. Geburtstags des Künstlers versteht. Einig sind sich Manheim und die an »Beuys behind the scenes« Beteiligten darin, dass das Beuys-Bild kritisch geprüft werden müsse, und besonders darin, welch eine zentrale Rolle Rudolf Steiner und die Anthroposophie für Beuys spielten. Manheim hält sich dabei wieder streng an Beuys’ Äußerungen und an Textstellen von Steiner und kommt zu dem Schluss, dass sich bei Beuys die Blut-und-Boden-Ideologie nicht explizit ausmachen lässt, sehr wohl jedoch ein anthroposophisches Deutschtum. Die Instagram-Storys von »Beuys behind the scenes« ­dagegen weiten den Fokus auf die künstlerischen Diskurse der BRD und ideologische Versatzstücke aus, die bis in die Gegenwart hineinreichen. Gerade Rudolf Steiner, die An­thro­posophie und die Waldorf-­Pädagogik werden nicht nur im Zusammenhang mit Beuys betrachtet, sondern es wird auch ihr Einfluss auf die »Querdenken«-Bewegung auf­gezeigt.

Auf die Frage »War Beuys ein nationaler Revolutionär?« urteilt Ansgar Martins in einem Video von »Beuys behind the scenes«, er sei ein »Kata­lysator des Postnazismus«. Diese Deutung ginge Manheim womöglich zu weit, da er bei Beuys zuvorderst Naivität, Mangel an historischem Bewusstsein und grenzenlose Selbstüberschätzung am Werk sieht und damit so tut, als ließe sich Beuys’ Anschlussfähigkeit für Ökofaschisten, antisemitische Anthroposophen und heimatverliebte Kunsthistoriker aus seiner Kunst ausklammern. Aber wie Wolfgang Brauneis einmal gezeigt hat, hat Beuys für die künst­lerische Sphäre der BRD eine ähnliche Funktion übernommen wie Heino für die musikalische. Beide verkörpern für die postnazistische Gesellschaft der Bundesrepublik die Verdrängungsleistung und die Unfähigkeit zu trauern geradezu perfekt.

Ron Manheim: Beim Wort genommen. ­Joseph Beuys und der Nationalsozialismus. Neofelis-Verlag, Berlin 2021, 144 Seiten, 14 Euro