Zum Todestag von Jean Améry

Damit das Wort nicht verstummt

Zum Todestag des Überlebenden Jean Améry am 17. Oktober.

Mit einer Überdosis Schlaftabletten vollzog Jean Améry im Oktober 1978 den Suizid, der vier Jahre zuvor noch gescheitert war, weil ihn ein Freund in letzter Minute gefunden und ins Krankenhaus ­hatte bringen lassen. Sein Freitod war die zum Äußersten getriebene Konsequenz aus den »unauflöslichen Widersprüchen der condition suicidaire«, die der Auschwitz-Überlebende in seinem 1976 veröffentlichten Buch »Hand an sich legen« beschrieben hatte.

Jean Améry wurde 1912 in Wien als Sohn jüdischer Eltern geboren. Nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an das »Dritte Reich« floh er im Jahr 1938 nach Belgien, wo er sich der Résistance anschloss. Beim Verteilen von Flugblättern wurde er von der Gestapo festgenommen und im belgischen Fort Breendonk gefoltert. »Die Tortur«, wie Améry später in seinem gleichnamigen Buch schreiben wird, ist »das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich bewahren kann«. Als seine jüdische Biographie bekannt wurde, schickten ihn die Nationalsozialisten über die Lager Buchenwald und Bergen-Belsen in die Todesfabrik Auschwitz-Monowitz.

»Nichts von dem, was wir dort erkannten, hätten wir nicht schon draußen erkennen können: nichts davon wurde uns zu einem praktischen Wegweiser. Wir sind auch im Lager nicht ›tiefer‹ geworden (…) Daß wir in Auschwitz auch nicht besser, nicht menschlicher, nicht menschenfreundlicher und sittlich reifer wurden, versteht sich, glaube ich, am Rande.« Jean Améry

In seinem wohl bekanntesten Aufsatz, »An den Grenzen des Geistes«, analysierte er die Rolle des Intellektuellen im Konzentrationslager und kam zu dem Schluss, dass Geist und Bildung als Überlebensressource ­bedeutungslos sind. Entschieden wandte er sich dagegen, der Erfahrung des Überlebens einen Sinn abzupressen. »Wir sind in Auschwitz nicht weiser geworden«, schreibt er. »Nichts von dem, was wir dort erkannten, hätten wir nicht schon draußen erkennen können: nichts davon wurde uns zu einem praktischen Wegweiser. Wir sind auch im Lager nicht ›tiefer‹ geworden (…) Daß wir in Auschwitz auch nicht besser, nicht menschlicher, nicht menschenfreundlicher und sittlich reifer wurden, versteht sich, glaube ich, am Rande.«

Améry habe nach 1945, so die Kulturwissenschaftlerin Birte Hewera in ihrer 2015 erschienenen Monographie »› … daß das Wort nicht verstumme‹. Jean Amérys Kategorischer ­Imperativ nach Auschwitz«, durch seinen »resignativen Duktus« immer wieder versucht, in gesellschaftspolitische Debatten zu intervenieren, um die Deutschen mit den von ihnen verübten Verbrechen gegen die jüdische Bevölkerung zu konfrontieren. Seine Essays waren nicht zuletzt ein Einspruch gegen den autobiographischen Bericht »Se questo è un uomo« (1947) von Primo Levi, dessen »Barackennachbar« Amery gewesen war. Gleichwohl beide Männer in Auschwitz-Monowitz etwa zur selben Zeit waren, begegneten sie einander lediglich ein Mal persönlich.

Levi, 1919 in Turin geboren, wuchs in einer liberalen jüdischen Familie auf, und studierte Chemie. 1943 schloss er sich dem italienischen Widerstand gegen den Faschimus an. Im Alter von 24 Jahren wurde er von den Faschisten festgenommen und zunächst in das Lager Fossoli deportiert. Im Februar 1944 wurde er zusammen mit 650 anderen Juden nach Auschwitz verschleppt, wo er zu den wenigen Deportierten gehörte, die die Selektion an der Rampe überlebten. Er wurde zum Arbeitsdienst in einer Gummifabrik der IG Farben in Monowitz unweit von Birkenau gezwungen. Anders als der Intellektuelle Améry habe der Naturwissenschaftler Levi sich aber »nicht als Schriftsteller« verstanden, urteilte der Philosoph Giorgio Agamben in seinem Essay »Was von Auschwitz bleibt«. Levi sei es darum gegangen, »Zeugnis abzulegen«. »Se questo è un uomo?« wurde bei seinem Erscheinen 1947 in der post­faschistischen Gesellschaft Italiens mit Interesse aufgenommen. In der deutschen Übersetzung erschien das Buch unter dem Titel »Ist das ein Mensch?« 1961, dem Jahr des Eichmann-Prozesses. Seine Schilderungen des Vernichtungslagers erreichten die Deutschen, lange bevor der Begriff »Holocaust« mit der Ausstrahlung der gleichnamigen TV-Serie 1979 kulturindustriell vermittelt Einzug in den Nachkriegswortschatz hielt.

Das Buch erschien in einer Zeit, als ehemalige NSDAP-Mitglieder eine zweite Karriere in Politik und Wirtschaft machen konnten, Entschädigungszahlungen an die jüdischen Opfer abgelehnt wurden und weithin ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gefordert wurde.

Während Améry in »Jenseits von Schuld und Sühne« (1966) die Entwürdigungen, Appelle und Tötungen szenenhaft und fragmentarisch darstellt, geht Levi in seinem Bericht chronologisch und detailliert vor. Durch genaue Beschreibungen der Tage, Nächte, des Essens und der Träume in Auschwitz lässt Levi den Leser an seinen Erfahrungen teil­haben. Améry habe sich im Angesicht »der nationalsozialistischen Umkehrung des Lebens- zum Todesprinzip«, so Irene Heidelberger-Leonard, Herausgeberin der Améry-Werk­ausgabe, eine Identifikation des Erlebten durch den Leser verbeten. Eine grundlegende Differenz zwischen Améry und Levi stellt, so Heidelberger-Leonard, die Beurteilung des Lagersystems und seiner willigen Vollstrecker dar. Améry kritisierte, dass Levi in seiner Darstellung ­einen Helfershelfer der SS als »human« bezeichnet hatte. Améry dagegen verzichtete in seinen Essays ­darauf, einzelne SS-Funktionäre oder Kapos zu charakterisieren, er analysierte die strukturellen Bedingungen, die dazu führten, dass die SS treiben konnte, wie sie es tat. Er schreibt: »Es gibt kein Naturrecht und die mora­lischen Kategorien entstehen und vergehen wie die Moden. Ein Deutschland war da, das Juden und politische Gegner in den Tod trieb, da es sich nur auf diese Weise glaubte verwirklichen zu können.«

Amérys Erfahrungen im nationalsozialistischen Gewalt- und Vernichtungssystem waren extremer Natur. Die Verfolgung und Entrechtung durch die eigenen Landsleute sowie die Folter durch die Gestapo hatten sein Weltvertrauen unwiderruflich zerstört.

Die Beziehung beider Überlebenden sei von tiefem gegenseitigen Unbehagen geprägt, ­urteilt Hewera. Améry nannte Levi »einen ›Verzeiher‹«, so Hewera; Levi wiederum habe Amérys Reflexionen über die Rolle des Intellektuellen im Lager als »bitter« und »kaltschnäuzig« empfunden. Während Levi die Verletzbarkeit Amérys übersehen habe, habe Améry die entschiedene Haltung Levis gegenüber den Deutschen ignoriert. Ein Verzeiher, so die Kulturwissenschafterlin, sei dieser nicht gewesen. Levi ließ seinen Bericht aus dem Ita­lienischen ins Deutsche übersetzen und sprach die deutschen Leser im Vorwort direkt an. Sein Ziel war es, der Tätergesellschaft vor Augen zu halten, was sie den europäischen Juden angetan hat. Vielleicht ist dieses Anliegen so etwas wie der gemeinsame Nenner beider Überlebender. Gerade in einer Zeit, in der das antisemitische Ressentiment in Deutschland nicht nur fort-, sondern auflebt und die Generation der Zeitzeugen stirbt, ist die Lektüre der Berichte der Überlebenden von großer Dringlichkeit.