Eine Biographie über den Schriftsteller Friedo Lampe

Auf dem Sonderweg der Moderne

Der erste Roman von Friedo Lampe wurde von den Nazis noch verboten, später arbeitete er jedoch als Lektor im »gleichgeschalte­ten« Verlagswesen. Die Texte des Schriftstellers, über den jetzt eine Biographie erschienen ist, zwingen zu einer Neubewertung der literarischen Moderne.

Tragische Verblendung im Sinne des griechischen Dramas spricht aus ­einem Brief, in dem der Schriftsteller Friedo Lampe im Dezember 1943 an seinen Freund Johannes Pfeiffer über die Bombardierung Leipzigs durch britische Flieger schrieb: »Das ganze Verlagsviertel ist ja zerstört, die Universität, die deutsche Bücherei, alles aufgebrannt. Das gab es schon einmal: Alexandria.« Die berühmteste Bibliothek der hellenistischen Welt in Alexandria gilt der Überlieferung als universaler Wissensspeicher der antiken Welt. Sie soll, so beschreiben es einige antike Autoren, bei einem auf Befehl Julius Caesars gelegten ­Feuer im 1. ahrhundert v. . . abgebrannt sein; ein großer Teil der wissenschaftlichen und literarischen Bestände einer ganzen Epoche schien für immer verloren gegangen zu sein.

Lampes Analogie zeugt von Verblendung, weil derselbe, der hier über einen Verlust alexandrinischen Ausmaßes klagt, sich in den Jahren zuvor als Bibliotheksmitarbeiter und Lektor am Aussortieren von im Nationalsozialismus unerwünschten Büchern und an der vorauseilenden Zensur von Neuerscheinungen beteiligt hatte. Von der Fülle der Weimarer Literatur, die in ihrer Gesamtheit zur Not »alexandrinisch« genannt werden könnte, war 1943 in Leipzig nicht mehr viel übrig: Was da abbrannte, waren Institutionen des verarmten und durchideologisierten Literaturbetriebs des Nationalsozialismus.

Und doch kann man einen Wahrheitskern in Lampes Worten anerkennen: Sie zielen letztlich nicht auf eine Fülle an Büchern, die sich mit jener der Bibliothek von Alexandria messen könnte, sondern auf das eine, das eigene Buch, Lampes Erzählband »Von Tür zu Tür«, der gerade in Leipzig gedruckt wurde. In Lampes Literatur ist in gewisser Weise alexandrinische Fülle in einem Maß aufgespeichert, das den Literaturbetrieb im Nationalsozialismus überstieg: auf inhaltlicher, aber besonders auf der Ebene der Ästhetik. Lampes ganz eigener Erzählstil greift auf kinematographische Verfahrensweisen zurück, trägt die Züge der technischen Moderne und nimmt Formelemente der ersten Avantgarden um 1900 und der zeitgenössischen internationalen, vor allem US-amerikanischen Moderne auf. Dazu gesellen sich in Lampes erstem Roman »Am Rande der Nacht« Elemente des modernen Stadtlebens, unter anderem Homosexualität, Sadomasochismus und ein Flirt zwischen einem Schwarzen und einer Weißen, die im Februar 1934, we­nige Monate nach der Publikation, zum reichsweiten Verbot führten.

Seit der Jahrtausendwende hat der Wallstein-Verlag in verdienstvollen Neuauflagen Lampes Werk neu herausgebracht und in zwei Bänden Briefe und andere Dokumente publiziert. Nun hat Johann-Günther ­König die erste Biographie des Schriftstellers vorgelegt.

Lampe, geboren 1899, stammte aus Bremen, aus einer wohlhabenden bürgerlichen Familie. Aufgrund einer Gehbehinderung wurde er weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg als Soldat eingezogen. Königs sorgfältig recherchierte Biographie zeichnet das Bild eines schon früh für Literatur begeisterten Schülers und eines Studenten der deutschen Literatur, Philosophie und Kunstgeschichte, der sich für die deutschsprachige Literatur seiner Zeit – besonders für Hofmannsthal und die Expressionisten – ebenso wie für die europäische und US-amerikanische interessierte, aber auch für die deutschsprachige Lite­ratur seit dem Barock. Dabei betont König besonders den Einfluss Stefan Georges und seines Kreises, der sowohl in ästhetischer als auch in ideologischer Hinsicht große Bedeutung für eine ganze Generation bürgerlicher Intellektueller hatte. Über das Verhältnis zur Bremer Räterepublik und überhaupt zur Linken schweigen sich die Quellen weitgehend aus, was König in aufschlussreicher ­Weise mit Geschehnissen kontrastiert, mit denen Lampe nachweislich in Berührung gekommen war.

Der Einfluss Georges und seines mit Homoerotik liebäugelnden Kreises ist sicherlich auch deshalb so deutlich, weil sie für Lampes Homosexualität die Rolle eines Modells spielen konnten. Ihr widmet die Biographie ein eigenes Kapitel, das die Homosexualität aus den Quellen – es sind in diesem Fall hauptsächlich retrospektive Aussagen von Freunden und Bekannten – klar herausarbeitet, aber auch darauf aufmerksam macht, dass explizite Selbstaussagen nicht erhalten sind. Lampe hat ein Leben geführt, das wohl auch von Kontakten mit Strichjungen, aber vor allem von großen Männerfreundschaften geprägt war, deren Bandbreite von schwärmerischer Liebe, die in Freundschaft mündet (Walter Hegeler), über intellektuelle Weggenossenschaft (Johannes Pfeiffer) bis zu einer Art Vater-Sohn-Beziehung (Peter Voß) reichte. Freilich spielen viele langjährige Beziehungen zu Frauen (von der Jugendfreundin Hertha ­Hegeler bis zur späten Freundin Ilse Molzahn) eine mindestens ebenso große Rolle in dieser Lebensgeschichte.

Von Lampes eigener literarischer Produktion ist erst etwa ab der Mitte von Königs Buch die Rede. Auf das Jahr 1931 datiert die damals zwar nicht veröffentlichte, aber erhaltene Erzählung »Am dunklen Fluß« – ein fulminanter Auftakt, eine Prosa, die die Leserin soghaft in ihre Welt hineinzieht und in den Bann der zwischen faszinierend-anziehend und unheimlich changierenden Stimmung schlägt. Die Erzählung ist geprägt vom Konflikt zweier Brüder, ­eines vitalen USA-Auswanderers und eines musikalisch-trübsinnigen ­daheimgebliebenen Arbeitslosen. Weder das Hierbleiben noch das Weg­gehen erscheint am Ende als Option, der deutschen Trübsal steht eine fragwürdig wirkende US-amerikanische Alternative gegenüber, die von fern an Kafkas »Amerika«-Romanfragment erinnert.

Lampes Œuvre ist schmal geblieben – in den dreißiger Jahren nahm ihn die Lektoratsarbeit stark in Beschlag, unter anderem für Hans Falladas Veröffentlichungen im Rowohlt-Verlag – und er hatte, wie er selbst schrieb, immer »Pech mit meinen Büchern«. Der Romanerstling »Am Rande der Nacht« wurde im Nationalsozialismus verboten, der zweite Roman »Septembergewitter« blieb weitgehend unbeachtet, und »Von Tür zu Tür« erschien erst nach seinem Tod – er wurde am 2. ai 1945 aus ungeklärten Gründen von sowjetischen Soldaten erschossen.

Der Literaturwissenschaft gilt Lampe als ein zukunftsweisender Autor, der für die bundesdeutsche Nachkriegsliteratur eine vielleicht nicht sofort ins Auge springende, aber doch nicht zu unterschätzende Bedeutung hatte. So hob schon 1957 Wolfgang Koeppen Lampes Technik des Verwebens simultan ablaufender Handlungsstränge hervor und nannte ihn »auf eine stille Art avantgardistisch« und sein Werk ein »Lehrbuch für junge Schriftsteller«. Die Bedeutung Lampes besteht in dieser Sichtweise, vor allem auch in der des von König zitierten Litera­turwissenschaftlers Heinrich Detering, darin, einen »Sonderweg der Moderne« gegangen zu sein, der charakterisiert sei von einer Mischung aus avantgardistischer Formsprache und »romantischer Traumpoesie«. Lampes Werk hat demnach eine bedeutende literaturgeschichtliche Funktion, insofern es einen anders gearteten Anschluss an die ästhetische Moderne beinhaltet als den des literarischen Exils – für die postnazistischen bundesdeutschen Schriftsteller wohl oft eine attraktivere Option als die Anlehnung an die Exilschriftsteller, die vielfach als Ver­räter und Drückeberger denunziert wurden.

Den Angriff Thomas Manns auf die in der postnazistischen Literatur verbreitete selbstgerechte Haltung – »In meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an« – wehrten Walter von Molo und Frank Thieß mit dem Gegenvorwurf ab, aus der angeblichen Bequemlichkeit des Exils das katastrophale Geschehen beobachtet zu haben, und stellten Mann den Kampfbegriff der »In­neren Emigration« entgegen. Diesen dreisten Versuch der Selbstviktimisierung und -heroisierung führt König zu Beginn der Biographie als ­einen wichtigen Faktor ein, der dazu beigetragen habe, eine differen­zierte Betrachtung der im Nationalsozialismus erschienen Literatur zu verhindern.

Tatsächlich ist seine Biographie frei von apologetischen Zügen. Vielmehr arbeitet sie deutlich heraus, auf der Basis welcher intellektueller Voraussetzungen Lampe an welchen Stellen im Nationalsozialismus mitgetan hat, sei es bei der sogenannten Gleichschaltung der Volksbibliotheken, sei es als Lektor, der auf Falladas Werk im Sinne der Einpassung in den nationalsozialistischen Literaturbetrieb einwirkte, sei es als einer, der für die Shoah noch nicht einmal eine Andeutung übrig hatte.

Mitgetan hat er – und das sollte deutlicher benannt werden, als König das tut – auch im Bereich der lite­rarischen Produktion. 1941 veröffentlichte Lampe in der propagandistischen Wochenzeitung Das Reich die Erzählung »Alexanderschlacht«, in der sich ein vom bürgerlich-belanglosen Leben in einem Kurort abgestoßener junger Mann in die Schlacht bei Issos von 333 v.   u. Z. hineinträumt, in der Alexander der Große den Perserkönig Dareios III. besiegte – »die besten Krieger Europas gegen die Weichlinge Asiens«. Sterbend empfängt der Träumer Alexanders Dank, währen um ihn herum »Heil Ale­xander, heil Alexander, Sieg!« ­gerufen wird. Offensichtlich ist Lampes lite­rarische Produktion nicht frei von nationalsozialistischen Zügen.

Zu einem differenzierten Bild dieser merkwürdigen literarischen Erscheinung gehört es auch, die Kontamination der Literatur durch die mörderische NS-Ideologie zu erforschen und anzuerkennen. Denn die glatte Entgegensetzung von Moderne und Nationalsozialismus ist nicht haltbar. Der Nationalsozialismus muss als genuin modernes Phänomen begriffen werden. Und das bedeutet auch, dass die ästhetische Moderne unter postnazistischen Bedingungen nicht mehr als per se progressiv verstanden werden kann.

Johann-Günther König: Friedo Lampe. Eine Biographie. Wallstein-Verlag, Göttingen 2020, 390 Seiten, 28 Euro