Obdachlosigkeit in New York City

Auf der Straße in New York City

In New York City leben über 60 000 Obdachlose. Ein geregeltes Einkommen schützt aufgrund der hohen Mieten in der Stadt und der mangelnden Sozialfürsorge in den USA oft nicht vor dem Verlust der Wohnung.
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Pizza für nur einen US-Dollar das Stück – das gibt es in New York City kaum noch. Die Schlange vor »2 Bros Pizza« in Manhattan ist entsprechend lang. Die Menschen, die hier anstehen, könnten unterschiedlicher nicht sein. Anzugträger führen über ihre kabellosen Kopfhörer Geschäftsgespräche neben Menschen in Mangakostümen, die gerade von der Comic Convention kommen. Nicht in der Schlange steht Alex*. Er hat lange, lockige schwarze Haare, ist unrasiert und obdachlos. Alex steht an der Kreuzung und bettelt um Dollar-Scheine, damit auch er sich Pizza kaufen kann.

Über 60 000 Obdachlose gibt es derzeit in New York City, 3 000 davon schlafen jede Nacht auf der Straße oder in der U-Bahn. Das wird von den meisten offenbar als unvermeidliches gesellschaftliches Phänomen akzeptiert. Alex’ Rufe nach finanzieller Unterstützung gehen im Lärm der Busse und des Straßenverkehrs rund um den Zentralen Busbahnhof gegenüber von »2 Bros Pizza« unter. In der politischen Diskussion in den USA geht es häufig darum, Obdachlose aus dem öffentlichen Stadtbild zu entfernen, sie aus den Bahnhöfen und Fußgängerzonen zu vertreiben, aber nur selten darum, sie wieder in die Gesellschaft zu integrieren. In New York City ließ der damalige Bürgermeister Michael Bloomberg 2009 Flugtickets ohne Rückflug an Obdachlose verteilen, damit die die Stadt verlassen. Mittlerweile will Bloomberg demokratischer Präsidentschaftskandidat werden.

Hohe Mieten, geringes Einkommen
Alex wohnt seit zwei Monaten auf der Straße in Manhattan, einem der teuersten Stadtviertel der Welt. Ihn traf ein Schicksal, mit dem sich viele Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt konfrontiert sehen: Obwohl die Immobilienpreise in der Stadt mittlerweile wieder sinken, sind die Mieten immer noch sehr hoch, das Einkommen bleibt aber gleich, bezahlbarer Wohnraum wird immer knapper. Nirgendwo in den USA war im Zeitraum von 2000 bis 2012 das Missverhältnis zwischen stagnierendem Einkommen und steigenden Mieten größer als in New York City. Die Mieten stiegen um durchschnittlich 75 Prozent. In Berlin etwa waren es 25 Prozent. Manhattan entwickelt sich immer weiter zur Insel der Reichen, während die Zahl der Obdachlosen in New York City steigt.

Obdachlosigkeit ist in der Stadt bereits seit langem ein Problem. Schon in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunerts beschloss die Regierung New York Citys als eine der ersten Städte weltweit, Mietsteigerungen zu begrenzen, und führte eine Form subventionierten Wohnens ein. Obwohl die Immobilienbranche in den dreißiger Jahren boomte, war der Markt in New York City bereits damals nicht in der Lage, allen Bürgerinnen und Bürgern entsprechenden Wohnraum zur Verfügung zu stellen. In den Achtzigern, während sich allmählich der Tourismus entwickelte, wurde Obdachlosigkeit zu einem offiziell anerkannten Problem; seit 1981 haben Obdachlose ein Recht auf einen Heimplatz. 2017 unterlag über die Hälfte aller Mietwohnungen in New York City irgendeiner Art der Mietpreisregulierung. Im Juni 2019 verabschiedete der Bundesstaat New York ein neues Mietpreisgesetz, den Housing Stability and Tenant Protection Act.

1981 war Obdachlosigkeit noch kein Thema für Toni*. Er ist sehr groß und schlank, puertoricanischer Herkunft und hat nur noch wenige, bereits ergraute Haare. Toni ist einer der Bewohner des Homeless Prevention Program (HPP), ­eines Programms an der Upper Westside, das Seniorinnen und Senioren meist vor Eintreten der Obdachlosigkeit vorübergehend aufnimmt und ihnen ­anschließend dauerhaften Wohnraum zu vermitteln versucht. Beim Abendessen erzählt Toni seine Lebensgeschichte: Er wuchs mit seinem Bruder in Upstate New York auf, der Vater war gewalttätig, die Mutter heroinabhängig. Als der Vater schließlich die Familie verließ, war Toni noch ein Jugendlicher. Die Mutter starb kurze Zeit später an einer Überdosis. Tonis Stimme ist zittrig und man spürt, während er spricht, was sein Schicksal mit ihm gemacht hat.

Er und sein Bruder boxten sich anschließend gemeinsam durch, beide spielten Basketball, sein Bruder strebte ein Sportstipendium an. Doch als Toni 20 Jahre alt war, fing sein Bruder an zu trinken, kam immer unregelmäßiger zum Training, häufig noch nicht ausgenüchtert. »Ich habe ihm klar ­gemacht, dass es so nicht weitergehen würde. Dass er mit dem Trinken aufhören muss. Doch zwei Wochen später kam er wieder betrunken zum Training und ist völlig ausgerastet. Wir haben uns gestritten und er hat nach mir geschlagen. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Das ist 40 Jahre her«, sagt Toni.
Lange kam Toni gerade so über die Runden. Doch im Alter brachen ihm wie vielen die Einkünfte weg und er verlor seine Wohnung. Heute gehört Toni zu den privilegierteren Wohnungslosen: Er wurde ins HPP aufgenommen, bevor er auf der Straße landete. Jetzt ­wartet er darauf, dauerhaft einen Platz in einem betreuten Wohnheim zu bekommen, doch die Wartelisten sind lang. Erst nach zehn bis 15 Jahren Wartezeit erhält man einen Platz in Wohnheimen in Manhattan und Queens.

Hoffnungslos überbelegt
»Viele Obdachlose können selbst von einem warmen Bett im HPP nur träumen«, sagt Gretchen Q., die Leiterin des HPP. Der Mangel an Wohnraum führe häufig zu einem für Manhattan typischen Zustand: dem overcrowding, der Überbelegung von Wohnungen. In der Not ziehen Menschen nach dem Verlust ihres eigenen Wohnraums oft in die Wohnungen von Freunden, Familienangehörigen oder Bekannten, in der Hoffnung, bald etwas Eigenes zu finden. Sie wohnen meist unangemeldet in den ohnehin schon eher kleinen Wohnungen, wo die Enge früher oder später zu Konflikten oder psychischen Krankheiten führt, bis viele mit einiger Verzögerung doch im Heim oder auf der Straße landen. Mit etwas Glück bekommen sie dann einen Platz im HPP. Dann dauert es meist etwa ein halbes Jahr, bis die Sozialarbeiterinnen und -arbeiter einen dauerhaften Platz zum Wohnen ausfindig machen können. Manchmal dauert es auch doppelt so lange.

Toni ist bereits seit acht Monaten hier. Doch auch in dem Gebäude aus braunem Sandstein auf Höhe des Central Parks kann nicht allen geholfen werden. Bis zu 20 Hilfeanrufe bekomme das kleine Team um Gretchen Q. jeden Tag. Von Fällen häuslicher Gewalt über Überbelegung bis zu Zwangsräumungen ist alles dabei. In der Regel sind die Menschen auf Hilfe binnen der nächsten 72 Stunden angewiesen. Die sieben Doppelzimmer im HPP sind jedoch fast ununterbrochen belegt.

Trotz ihrer Probleme können sich weder Alex noch Toni vorstellen, aus dem »Big Apple« wegzuziehen. »Ich war doch mein ganzes Leben hier, wo soll ich denn sonst hin?« sagt Toni. Die ­sozialen Kontakte seien genauso unverzichtbar wie ein Dach über dem Kopf, meint Gretchen Q.: »Menschen, die aus lauter Verzweiflung die Stadt verlassen, kommen Jahre später oft wieder, obwohl sich ihre finanzielle Situation in der Zwischenzeit nicht verbessert hat. Sie leiden unter Depressionen oder Angststörungen.«
Gesellschaftlich wünscht sich Gretchen Q. vor allem die Entstigmatisierung von Obdachlosen und Verständnis für deren ohnehin schon schwere Situation. »In Manhattan bekommen herrenlose Hunde mehr Aufmerksamkeit als auf der Straße schlafende Menschen«, bedauert sie.

Ohne Absicherung
Obdachlosigkeit kann in New York City nahezu jeden und jede treffen, da die soziale Absicherung in den USA generell mangelhaft ist. Oft reicht ein Schicksalsschlag aus, damit Menschen ihre Wohnung verlieren. Ein gebrochenes Bein führt bei schlechter oder gar keiner Krankenversicherung schnell zur Zahlungsunfähigkeit und damit zur Zwangsräumung der Wohnung. Die schlechte öffentliche Gesundheitsversorgung ist mitverantwortlich für die hohen Obdachlosenzahlen in New York City. Immer wieder sieht man Menschen im Rollstuhl oder mit einem Bein in Gips auf den Bürgersteigen ­sitzen.
Auch eine unerwartete Kündigung der Arbeitsstelle führt häufig zum Verlust der Wohnung. So berichtet Alex im Lärm der Kreuzung frustriert davon, wie er vor wenigen Wochen seine Arbeit verloren habe und anschließend aus seiner Wohnung geworfen worden sei. Es ist ihm sichtlich unangenehm. »Ich konnte die Miete nicht mehr zahlen, da haben sie mich rausgekickt. So ist das hier«, erzählt er mit gesenktem Kopf.


Selbst bei bestehendem Arbeitsverhältnis kann das Einkommen nach einer Mieterhöhung plötzlich nicht mehr ausreichen. Die meisten Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, sagen, sie hätten es nie für möglich gehalten, sich einmal in dieser Situation wiederzufinden. Gretchen Q. erläutert, dass es Zeiten gab, in denen 13 der 14 Bewohnerinnen und Bewohner des HPP einer regelmäßigen Tätigkeit nachgegangen seien und dennoch keine Wohnung finanzieren konnten. »Ich habe auch schon ehemalige Millionäre aufgenommen, die ein teures Auto fuhren und eine große Wohnung besaßen, bis die Finanzkrise sie eingeholt und in diese Lage gebracht hat«, so Gretchen Q.

Auch strukturelle Diskriminierung und Rassismus spielen eine große Rolle. So sind zum Beispiel über die Hälfte der Obdachlosen in New York City Afroamerikaner, ihr Anteil an der städtischen Bevölkerung beträgt hingegen nur ein Viertel.

Das verhältnismäßig unausgereifte System der Sozialhilfe und das schlechte Versicherungssystem, insbesondere die mangelnde Rentenversicherung, tragen stark dazu bei, dass Menschen in den USA einem höheren Armuts- und Obdachlosigkeitsrisiko ausgesetzt sind, selbst wenn sie ein festes Einkommen haben. Das zeigen nicht zuletzt die Schicksale von Alex und Toni.
 

* Name von der Redaktion geändert.