Der Comic »Wir ­waren Charlie« von Luz

Charlie auf der Netzhaut

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Luz konzentriert sich auf sein bevorzugtes Metier: die gezeichnete Reportage. Mal wird er auf einer antirassistischen Demonstration von Polizisten vermöbelt, weil er über seinen Skizzenblock gebeugt nicht schnell genug die Flucht ergreift. Ein paar Jahre später begleitet Luz den Sänger Renaud auf einer »Tournee für den Frieden« durch das kriegszerstörte ehemalige Jugoslawien, wo er von Soldaten verhaftet wird, da er militärisch relevante Gebäude gezeichnet hat. Weitere Reportagen führen ihn in die Pariser Banlieues, in ein Hochsicherheitsgefängnis im US-amerikanischen Louisiana, auf eine SM-Sexparty und in das Aktionskomitee zur Vorbereitung des Präsidentschaftswahlkampfs von Jacques Chirac. Ansonsten fängt Luz den Arbeitsalltag im Kreis seiner Kollegen ein und macht den Schmerz spürbar, die Freunde und Kollegen verloren zu haben und die Möglichkeit, sich gemeinsam mit ihnen über alles und jeden lustig zu machen.

Ausgangspunkt ist ein wiederkehrender Alptraum: Luz betritt verschlafen die Redaktion, in der jeder geschäftig seiner Arbeit nachgeht. Aber niemand beachtet ihn. Die Erinnerung reißt ihn aus dem Schlaf: »Ein Traum … Alles war so normal …Entsetzlich normal … Wie früher … Vielleicht doch ein Alptraum … « Zeich­nerisch wird diese Erzählebene in der Gegenwart von den in Schwarzweiß gehaltenen Erinnerungen durch dunkle Aquarellfarben abgehoben. Die Rückschau ist strukturiert von der Auseinandersetzung mit dem traumatischen Erlebnis, selbst banalste Alltagssituationen wie nicht funk­tionierende Drucker, wackelnde Tische, verrauchte Räume und der Standdienst bei Messen sind für Luz nicht mehr ohne den mörderischen Anschlag und seine Folgen erinnerlich. Denn der Alltag hat vor allem aus den Debatten und Frotzeleien mit denjenigen bestanden, die nicht mehr da sind, aus Sticheleien, Zuneigung und Freundschaftsbekun­dungen. Die ermordeten Zeichner Tignous, Charb und vor allem Cabu werden in umfangreichen Kapiteln gewürdigt, die ihre widersprüchlichen Charaktere nicht verklären und doch ihre Bedeutung für den Re­daktionsalltag wie auch für Luz einfangen.

Erst am Ende des Buchs führt Luz Gegenwart und Vergangenheit wie­der zusammen: Die blaue Aquarellfarbe schleicht sich in eine Büroszene, die Nachbilder der Ermordeten verblassen langsam, Luz hat ihnen mit seinem Comic einen Ort der Erinnerung geschaffen. Zuletzt schreibt Luz: »Da ist die Erinnerung, und da ist das Gedächtnis. Es bleiben ­Spuren. Du triffst die Freunde in Gedanken, die unauslöschlich sind. Zeichnen, ein verdammt schöner Beruf! Das ist nicht weg, geht nicht weg. Unauslöschlich!«

Luz: Wir waren Charlie. Aus dem Französischen von Vincent Julien, Karola Bartsch und Tobias Müller. Reprodukt, Berlin 2019, 320 Seiten, 29 Euro