Die gesammelten Schriften Otto Kirchheimers

Freiheit und Verfassung

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Mit der Bestimmung dieses – von ihm so nicht bezeichneten – Doppelcharakters moderner sozialer und politischer Verhältnisse beschreibt Kirchheimer auch in seinem letzten grundlegenden Aufsatz des Bandes, »Zur Frage der Souveränität« (1944), letztlich das Verhältnis von »Form und Inhalt der Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen sozialen Gruppen und Institutionen«: Er fasste es als dialektisches Verhältnis, das die Bedingungen seiner eigenen negativen Auflösung in sich trägt. Insofern betont Kirchheimer in seinem Aufsatz die reale, aber abstrakte Dimension der staatlichen Souveränität. Es sei zwar, räumt er ein, durchaus richtig, dass sich die soziale, ökonomische, mithin politische Macht in der »modernen Gesellschaft« durch eine »Unzahl freiwilliger Organi­sationen« strukturiere. Doch diese Macht erschöpfe sich keineswegs in der konkreten Kräftekonstellation dieser Gruppen. Vielmehr müsse sie sich auch in der Sphäre des souveränen Staats übersetzen – erst durch »die Hilfe der Regierung«, durch »die Träger der legitimen Gewalt« könnte sich die gesellschaftliche Macht auch in faktische Macht übersetzen.

Entscheidend für die konkrete Zeitdiagnose Kirchheimers ist in dem Zusammenhang die auch im Staatskapitalismustheorem eingelassene marxistische These vom Epochenwandel des Kapitalismus. Das Kräfteverhältnis zwischen den sozialen Gruppen, einst soziale Basis der Demokratie, habe sich in der Epoche des Monopolkapitalismus zugunsten einiger mächtiger Kapitale verschoben, die so einen unmittelbaren Zugriff auf die staatliche Gewalt ­erlangten. Darüber hinaus habe die Gesellschaft ein »Stadium« erreicht, in dem »der Erfolg mehr vom Zugang zu Organisationen und zu technischen Mitteln aller Art abhängt als von Talenten«. Mit dieser Über­legung knüpfte Kirchheimer an den von Adorno und Horkheimer formulierten Begriff der »Rackets« an. Im Nationalsozialismus sei, so Kirchheimer, die real-abstrakte Form­ebene eliminiert und durch eine ­reine Bandenherrschaft ersetzt worden. Die Auflösung des Widerspruchs zwischen Individuum und Kollektiv zugunsten der Gruppenherrschaft im Monopolkapitalismus stellte so für Kirchheimer letztlich die materielle Voraussetzung autoritärer Herrschaft dar.

In seinem Aufsatz von 1944 griff er auf eine Überlegung zurück, die er bereits drei Jahre zuvor in seinem Aufsatz über den »Strukturwandel des politischen Kompromisses« formuliert hatte. In diesem früheren Aufsatz geht Kirchheimer im Sinne des traditionellen Marxismus von ­einem nicht näher bestimmten liberalen Konkurrenzkapitalismus im 19. Jahrhundert aus, der mit idealtypischen Formen des Rechts und der politischen Kompromissbildung korrespondiere. Dieser habe sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem konkreter gefassten zentralisierten und konzentrierten Kapitalismus ­gewandelt. So habe sich die Herrschaft relativ ausgeglichener Klassenkräfte zu einer unmittelbaren Herrschaft der Monopole gewandelt. Dadurch habe sich ein grundlegender politischer Wandel im liberal-demokratischen System von »checks and balances« vollzogen.