Das Reich der Freiheit beginnt nach Ladenschluss

Karl Marx im Späti

Seite 3 – Der Späti als Freiheitsgarant

Mit diesem ideologischen Euphemismus für die individuelle Erträglichmachung hyperentfremdeter Städte aber hatte der Späti ohnehin nie etwas zu tun. Er wurde geboren aus den Arbeitsbedingungen und entwickelte sich nicht zufällig in den Großstädten, den Hochburgen prekärer Arbeitsverhältnisse, am zahlreichsten. Bekannt sind vor allem Städte im Osten wie etwa Leipzig und Dresden für ihre Spätis, die der DDR-Arbeiterkultur entstammen. Die ­Läden hatten damals die Schichtarbeiter mit Artikeln des täglichen Bedarfs versorgt. Dieses Reich der Notwendigkeit ist in Teilen überwunden, und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet eine linke Arbeitsministerin im Sinne des Arbeitsschutzes argumentiert, wenn sie dieses kleine Tor zur Freiheit wieder schließen will. Man möchte seinem inneren Ulf Poschardt zuhören und sagen: Wenn die Linke gegen Spätis ist, hat die Freiheit in Deutschland keine Zukunft mehr.

Solchen Kritikern erwidert die ­Senatorin Breitenbach scharf, der Späti sei »nicht in erster Linie ein ­Lebensgefühl, sondern ein Ladengeschäft«. Blöd für die, die sich im ­Laden dank des Lebensgefühls eine Existenz aufgebaut haben. Blöd auch für die, die dank Flexibilisierung der Arbeitswelt (wieder) wie einst so viele Schichtarbeiter zu Unzeiten arbeiten – etwa die vielen Verborgenen in der Gastronomie, in den Clubs, Hotels oder in den Irrenhäusern der Start-ups. Am lautesten weinen um den sonntäglichen Einkauf jene, die an jedem anderen Tag einkaufen können. Am empfindlichsten trifft es aber die, deren flexibilisierter Feierabend keine Rücksicht auf göttliche Ruhetage kennt. Ein Freiheitsgarant ist der Späti für beide.

Nicht umsonst verlangte ein ge­wisser bärtiger Philosoph für den Eintritt ins »Reich der Freiheit« schon vor 150 Jahren eine Verkürzung des Arbeitstags. Was könnten die Genossen von ihm alles lernen! Etwa, wie die »Bedürfnisse sich erweitern«, weil sich die »Produktivkräfte erweitern« und umgekehrt – ohne dass der Zwang zur Arbeit jemals weniger würde. Wenn die Senatorin also erreichen will, was in ihrem Interesse liegen könnte – der Schutz der Arbeitnehmer –, müsste sie nicht den schon lange nicht mehr heiligen, für die Erbauung reservierten Sonntag schützen. Eher könnte sie den der Marktwirtschaft heiligen Werktagen, reserviert für die Tätigkeit, ­Beschränkungen auferlegen. Krieg gegen die Spätis bedeutet Krieg ­gegen die Arbeiter, vor und hinter dem Verkaufstresen, nicht aber gegen die Arbeit selbst.

Womöglich interessiert sie das aber gar nicht, schließlich ließ sie verlauten, zur Debatte stünde nicht ihre »persönliche Meinung«, sondern »die Umsetzung eines geltenden Gesetzes.« Das klingt, als ginge es um die korrekte Silbentrennung, aber selbst solch Ordnungsamt-Positivismus á la Boris Palmer kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gesetze im Gegensatz zur Grammatik auszulegen sind. Auch das Grundgesetz.