Der analoge Mann - Aus Kreuzberg und der Welt

Aua, die Brust

Comic-Releaseparty bei Lefter Records, einem neuen Plattenladen in der Kreuzberger Gneisenaustraße. Diesen hat ein Exil-Istanbuler eröffnet, dem es zu gefährlich wurde in Erdoğanland. Ich war schon ein paar mal dort. Lefter hat alles, überwiegend Second-Hand-Platten verschiedenster Genres, aber auch viel Neues, wie die Releases des Labels Prof Sny, das auf türkischen Punk spezialisiert ist. Zuletzt veröffentlichte Prof Sny die hervorragende antifaschistische Istanbuler Oi-Band The Ayilar. Nun feiern hier im Plattenladen Zeichner Oska Wald und der Autor Al Burian das Erscheinen der zweiten Ausgabe ihres selbsverlegten Comics »Dean Street«. In dem autobiographisch gefärbten Underground-Comic zieht der Musikjournalist Al in das letzte nicht gentrifizierte Haus eines Viertels in Chicago. Unter seinen seltsamen Nachbarn ist zum Beispiel DJ Salty Snax, der sich darüber wundert, dass Al ihn nicht kennt: »If you were European, you’d know me. My tracks are constantly banging in Europe.« Ach ja, der Comic ist auf Englisch! Aber es ist leicht zu verstehendes Englisch.

Während ich im hinteren Teil des Ladens noch die Plattenkisten durchstöbere, hat es sich vorne gefüllt. Plötzlich beginnt auch schon der erste Act. Big Daddy Mugglestone rezitiert Gedichte auf Englisch. Diesmal verstehe ich gar nichts. Irgendwie gehen die Metaphern an mir vorbei. Ganz schön zäh, der Vortrag. Das Publikum, überwiegend junge Frauen, sitzt gebannt im Schneidersitz auf dem Boden. Mugglestone redet sich in Rage. Plötzlich reißt er sich das ­T-Shirt auf und schlägt sich mit der Faust auf die nackte Brust. Einmal, zweimal, dreimal. Immer lauter. Es tut weh, das mitanzusehen, vor allem im Kontrast zu diesem fast zu ordentlichen Ort und diesen jungen Frauen, die im Schneidersitz auf dem Boden sitzen.

Ich erinnere mich, dass ich mir als junger Mann auch gelegentlich demonstrativ mit der Faust auf die Brust schlug. Wie ein Affe, der sich stark fühlt und dem so ein paar Schläge auf die Brust nicht das Geringste ausmachen. Ich wusste, dass alle dachten: »Au! Au!! Mach das nicht! Das tut doch weh und ist gefährlich. Was ist, wenn dein Herz stillsteht?« Die Empfindlichkeit der anderen hat mich erst recht angespornt. Selbstverletzung ist sowieso der älteste Trick von Punkern. Sid Vicious schnitt sich bei Auftritten in die Haut, GG Allin hat noch viel schlimmere Sachen gemacht. Ich erinnere mich an ein Konzert, bei dem der Sänger von Antiseen eine Bierflasche am Mikroständer zerschlug und sich dann mit Wucht den Stumpf in die Stirn haute, bis sein Gesicht blutüberströmt war. Das ging schnell. Er war offensichtlich routiniert, denn seine Stirn, die unter den lange Haaren verborgen war, war stark vernarbt.

Aber seit diesem Konzert von Antiseen in der Hamburger Fabrik sind 30 Jahre vergangen und jetzt stehen auch nicht lauter johlende Punks im Raum. Ich bin zum Glück empfindlicher geworden. Ich sehe, wie schwer Big Daddy Mugglestone atmet. Er sollte das wirklich nicht tun. So jung und gesund sieht er nicht aus. »Au! Au!! Mach das nicht!« sage ich unwillkürlich. Halblaut steht es im Raum. Big Daddy schlägt sich un­beeindruckt weiter auf die Brust. Nein, vielleicht sogar noch ein wenig härter. Er weiß jetzt, dass es bei ­seinem Publikum wirkt. Halbnackt beugt er sich zu einer Frau herunter und schreit und schlägt. Eine Frau neben mir lächelt mich mitfühlend an. Nach ein paar Minuten ist es auch schon vorbei.

Kurz darauf spielt Oska Wald ein Set und begleitet seine schön kaputte Stimme mit der Gitarre. Neben ihm sitzt an den Bongos, schon wieder angezogen und sortiert, aber immer noch ein bisschen schweratmig, Big Daddy Mugglestone.