»Waffenruhe«: Ein Bildband zeigt das geteilte Berlin der achtziger Jahre

Die unendlichen Schattierungen von Grau

In seinem jetzt wiederveröffentlichten Bildband »Waffenruhe« zeigt der Fotograf Michael Schmidt das geteilte Berlin der achtziger Jahre.

»Waffenruhe« ist ein Buch der Schwere. Ein Buch, das mit der seltsamen Folge ebenso seltsamer schwarzweißer Fotografien und einem klaustrophobischen, depressiv gestimmten Text von den Grenzen des Wahrnehm- und Erzählbaren berichtet. Das Außen, das hier beschrieben wird, scheint so übermächtig zu sein, dass es sich ins Innere verbeißt. Die Bilder zeigen eine Stadt, nämlich Westberlin, während in der Erzählung von einer ganz persönlichen, verfahrenen Situation berichtet wird.

Die Bilder und der Text geben Einblicke in die Leben, die im Westberlin der achtziger Jahre mehr sich haben leben lassen, als gelebt zu werden. Diese Einblicke sind auf eine solche Weise subjektiv, dass sie kaum objektiv erfasst werden können. So getrieben und bedroht scheinen die zu sein, die hier berichten, dass keine faktengestützte Rückschau auf ihre Zeugnisse möglich ist. Es ist ein Trieb, der die Erzählung leitet, infantil und autoritär. So wirkt das Buch auch heute, etwas mehr als dreißig Jahre nach seinem erstmaligen Erscheinen 1987.

Den Band veröffentlichte der Fotograf Michael Schmidt gemeinsam mit dem Schriftsteller und Theaterregisseur Einar Schleef. Sein Inhalt ist klar verortet im westlichen Teil der durch die Mauer geteilten deutschen Großstadt. Trotzdem wirken Schmidts Bilder eben durch ihre Subjektivität wie jenseits dieses Ortes und seiner Geschichte. Nun wurde das Buch endlich neu aufgelegt. Denn obwohl »Waffenruhe« sehr oft als Referenz genannt wurde, war es lange Zeit vergriffen, schwer zu bekommen und antiquarisch teuer, und so einer größeren Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Das ändert sich nun: Im Januar waren Schleefs Text und Schmidts Bilder bereits als Projektion an der Fassade der Berliner Volksbühne gezeigt worden.

Michael Schmidts Fotografien wirken so, als seien sie durch ein entzündetes Auge hindurch aufgenommen worden, ein Auge, das beim Sehen schmerzt. Über die Netzhaut hat sich dicker Schleim gelegt. Als Metapher für solchen Schleim fungiert in den Bildern oftmals die die Sicht versperrende Mauer. Manchmal aber ist es eine verschmutzte Scheibe, ein Baum oder Gestrüpp. Einmal sind es Graffiti und Schmutz, die ein an eine Wand gepinseltes Hakenkreuz verdecken. In Bildern wie diesen gerät Geschichte zur Verdammnis, sie machen klar, dass man sie durch seine gesamte eigene Gegenwart hindurch nicht mehr loswerden wird.

Michael Schmidts Fotografien wirken so, als seien sie durch ein entzündetes Auge hindurch aufgenommen worden, ein Auge, das beim Sehen schmerzt.

Der Fotograf, der 1945 nach Kriegsende im späteren westlichen Teil von Berlin geboren wurde, fotografierte seit den frühen siebziger Jahren seine unmittelbare Umgebung, nämlich die Stadtteile Kreuzberg und Wedding. Er veröffentlichte mehrere Fotobücher, in denen er seine Registraturen dieser Viertel zusammengestellte. Hier ist die Trennung zwischen ihm und der Außenwelt noch intakt und das Auge noch nicht entzündet. Der Fotograf durchstreift seine Umgebung, er sucht Orte auf und instruiert ihre Bewohnerinnen und Bewohner. Von 1978 ist sein Buch über den Wedding, darin im Querformat Straßenausschnitte mit Ladenzeilen, Wohnhäusern und Baustellen. Das analytische Interesse an Gesellschaft zeigt sich in Aufnahmen von Menschen, etwa den Beschäftigten des Bezirksamts Wedding. So stellt er Aufnahmen eines Stadtoberinspektor neben die einer Sozialarbeiterin, beide an ihren Arbeitsplätzen und in ihren Wohnungen. Er, sachlich am aufgeräumten Schreibtisch, mit einem übergroßen Telefon, sie, auf ihren Arm gestützt vor Schränken und Büchern. Dann wieder er mit seiner Frau zwischen barocker Tapete und vergoldetem Spiegelrahmen, dann sie liegend auf einer Couch, mit gemusterter Decke und einer großen Lautsprecherbox. In den Bildern, die er selbst im Labor entwickelte, findet man so ziemlich jede mögliche Schattierung von Grau.

Wedding oder Kreuzberg, überhaupt Berlin, galt noch in den siebziger Jahren als Provinz, wenn es um Kunst ging. So sahen das Kuratoren wie zum Beispiel Klaus Honnef, der 1979 im Rheinischen Landesmuseum Bonn die Fotoausstellung »In Deutschland« organisierte, in der er den Realismus der sogenannten Düsseldorfer Becher-Schule in den Mittelpunkt stellte. Michael Schmidt und einige seiner Schüler aber wurden mit ihren Arbeiten trotzdem zu dieser Ausstellung eingeladen. Schmidt unterrichtete seit 1969 an der Volkshochschule in Kreuzberg Fotografie und gründete dort 1976 die »Werkstatt für Photographie«, die für die Entwicklung und Diskussion des Realismus sowie der Dokumentarfotografie wichtig werden sollte. An den Treffen der Gruppe nahmen zeitweise Fotografinnen und Fotografen wie Gosbert Adler, Joachim Brohm, Tuna Ciner und Barbara Balden teil. Es gab sogar einen Austausch mit US-amerikanischen Künstlern wie Larry Clark. Michael Schmidt selbst zeigte schließlich 1989 im Museum of Modern Art in New York eine Einzelausstellung, bei der auch »Waffenruhe« zu sehen war. Für deutsche Fotografen war das bis dahin eine seltene Ehre.

Die »Werkstatt für Photographie« war als Ort des Austauschs zwischen Amateuren und Professionellen gedacht. Neben Vorträgen und theoretischen Debatten waren auch die technischen Grundlagen Thema. Eine seltsame Mischung, aus der sich ein eigener Stil herausgebildet hatte, den der Fotografietheoretiker Thomas Weski, der selbst an den Treffen der Werkstatt teilnahm, folgendermaßen beschrieb: Es dominiere eine Methode, »die eng mit der künstlerischen Praxis von Michael Schmidt verbunden ist: eine in der Wahl der Themen sehr persönliche, in der Wahl der Mittel sehr zurückhaltend-sachliche Form der Dokumentar­fotografie«. Das bedeutet, dass die Themen aus dem eigenen Umfeld genommen wurden und dazu über formale Einfachheit wiederum eine gewisse Distanz aufgebaut werden sollte.

Als »Waffenruhe« 1987 erschien, existierte die Werkstatt für Photo­graphie seit einem Jahr nicht mehr. Die bereits beschriebene Tendenz, die Außenwelt zur Innenwelt zu ­erklären, findet sich auch sehr stark im Text von Einar Schleef. Der 1944 im Osten geborene und 1976 in den Westen übergesiedelte Autor beschreibt eine für sich genommen elende Situation. Da sitzt jemand, ein Mann, in einer heruntergekommenen Wohnung mit einem Kaninchen. Seine Frau hat ihn vor einer Weile verlassen, die Situation überfordert ihn. Nicht einmal dem Kochen von Tee scheint er gewachsen zu sein: »Die leere Schale, sie war inzwischen trocken geworden. Nein. Die stand schon bereit, er hatte sie hingestellt. Die Messer waren frisch abgetrocknet. Die Platte trocken. Er fasste darüber, aber nur an die Kante, die Hand wollte nicht zum Radio oder zur Teebüchse. Sie blieb am Rand. Dort war die Platte trocken, aber die Kante hatte er nicht geschrubbt. Das sah unordentlich aus. Endlich goß er Tee ein. Eine braune Brühe. Wegschütten.« Banal, eng und schwer ist diese Erzählung einer kleinen Welt, in die das Außen, wenn überhaupt, nur geisterhaft und als Zumutung einbricht.

 

Michael Schmidt: Waffenruhe. Mit einem Text von Einar Schleef. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2018, 82 Seiten, 29,80 Euro