Ein Besuch bei jüdischen Kandidatinnen und Kandidaten für die belgischen Kommunalwahlen

Wahlkampf mit Juden

Seite 2 – Divers bleiben
Reportage Von

Zehn Minuten – länger braucht man mit dem Rad nicht vom jüdischen Viertel bis in den Stadtteil Zuid. Und doch könnte Tatjana Scheck, was die Umgebung betrifft, kaum weiter entfernt sein von André Gantman. Das »Copper« ist ein zeitgemäßes Quartiercafé an einer Straßenecke mit stilsicherer Musikauswahl für den frühen Morgen. Durch die große Fensterfront winkt Scheck immer wieder Bekannten zu, während sie am Tisch sitzt. Sie wohnt um die Ecke, war Schöffin für Jugend und Soziales im Bezirksrat und fühlt sich ausgesprochen wohl hier – »in einer vor allem türkischen Gegend, mit den besten Nachbarn, die es gibt«, so Scheck.

Auch Scheck ist eine jüdische Kandidatin – wobei das nicht alle wissen, denn sie profiliert sich in der Regel nicht als solche. Man kennt die Violinistin, die ihre eigene Musikschule betreibt, eher als umtriebig auf den Gebieten Jugend, Kunst und Kultur, was ihr diesmal den fünften Listenplatz der sozialdemokratischen Socialistische Partij Anders (SPA) eingebracht hat. Einst standen die Sozialdemokraten für Integration, Angehörige von Minderheiten wandten sich an sie und fühlten sich durch sie repräsentiert. Was die Jüdinnen und Juden Antwerpens angeht, sind diese Zeiten lange vorbei. Der Palästina-Konflikt und die Art der Diskurse über Islam und Integration haben das Verhältnis auch hier belastet.

»Eine sehr komplexe Geschichte«, bemerkt Scheck. »Ich finde, dass linke Parteien in Europa zu oft nur eine Seite des Palästina-Konflikts sehen. Schwierig ist das übrigens auch für mich persönlich, da meine gesamte Familie mütterlicherseits in Israel wohnt. Meiner Partei ist es wichtig, mit mir eine Kandidatin zu haben, die das nuanciert ausdrückt. Ich sehe die jüdische Gemeinschaft aber auch als erste migrantische Gemeinschaft in dieser Stadt. Seitdem sind viele hinzugekommen, die friedlich nebeneinander leben. Oft ist es mehr neben- als miteinander, aber so schlecht läuft es doch nicht.«

Scheck, Mitte 40, ist das Kind einer Musikerfamilie. Parteimitglied wurde sie vor 15 Jahren, weil sie sich gesellschaftlich engagieren wollte. Heutzutage sieht sie sich durchaus in der Nachfolge jener Sozialdemokratie, die den Jüdinnen und Juden ihrer Stadt im vergangenen Jahrhundert ein politisches Zuhause bot. Wobei es ihr gerade nicht um identitäre Bindungen geht, sondern eher um radikale Gleichheit und Partizipation. »Ich sehe mich noch mehr als Kandidatin eines vielfarbigen, superdiversen Antwerpen, wo es auf 506 000 Einwohner 172 Nationalitäten gibt. Für die wollen wir eine Art New Yorker Modell, mit Raum für die Festtage jeder Gruppe. Das ist unser Ansatz, statt die verschiedenen Gemeinschaften gegeneinander auszuspielen.«


Schwierige Kandidatenwahl

Der Seitenhieb auf die N-VA ist unmissverständlich. Der rechten Partei wirft Tatjana Scheck vor, antimuslimische Ressentiments zu schüren. Die Annäherung der flämischen Nationalisten an Jüdinnen und Juden sieht sie als taktisches Manöver: »Das ist Teil einer Tendenz der europäischen Rechten, sich im Rahmen ihres Anti-Islam-Diskurses als proisraelisch zu inszenieren.« Dass es bei manchen Musliminnen und Muslimen auch in Antwerpen antisemitische Tendenzen gibt, will sie nicht bestreiten: »Das dürfen wir nicht kleinreden.« Die rechten Ränder der N-VA sollte man ihr zufolge jedoch ebenso wenig vernachlässigen.

Gerade wurden einige junge Kandidaten der N-VA von Wahllisten gestrichen, die der identitären flämischen Jugendbewegung Schild & Vrienden (S & V) angehörten. Bei Mitgliedern der rassistisch und sexistisch auftretenden Bewegung gab es vergangene Woche Hausdurchsuchungen wegen des Verdachts auf Straftaten. Die Parteispitze der N-VA distanziert sich von S & V, doch zeigt sich einmal mehr die Anfälligkeit mancher flämischer Nationalisten für rechtsextreme Ansichten. »Da stelle ich mir doch ein paar Fragen, wenn ich De Wever jedes Jahr bei der Shoah-Gedenkfeier mit einer Kippa sehe«, sagt Scheck.

Es fällt auf, dass die SPA Scheck nicht ausdrücklich als jüdische Kandidatin ins Rennen schickt. Ganz anders sieht das bei der Partei Christen-Democratisch en Vlaams (CD & V) aus, dem ehemals großen Konkurrenten der Sozialdemokraten um die Macht in Antwerpen. Die Christdemokraten wollen nur zu gerne eine Jüdin oder einen Juden auf ihrer Liste, um im jüdischen Viertel zu reüssieren. Dabei haben sie allerdings nicht das glücklichste Händchen. Mit Aron Berger präsentierte die CD & V im Frühjahr den ersten chassidischen Kandidaten der Antwerpener Geschichte. Kurz darauf nahm er seine Kandidatur wieder zurück, da seine Weigerung, Frauen die Hand zu geben, nicht vermittelbar war. Zudem gab es Bedenken wegen eines Strafverfahrens gegen ihn vor einigen Jahren wegen Diebstahls.

Berger war aber nur der zweitgrößte Fehlgriff der Christdemokraten in diesem Wahlkampf. Ein anderer ihrer Kandidaten, Rediart Cankja, wurde Anfang September mit drei Kilogramm Heroin im Auto von der französischen Polizei an der Grenze zur Schweiz verhaftet. Umstritten ist nun auch Bergers Nachfolgerin Rezi Friedman, eine 23jährige Pädagogin. Bedenken gegen ihre Kandidatur gibt es ausschließlich wegen ihres Vaters, des Rabbiners Mo­she Friedman. Der bekennende Antizionist und Unterstützer des deutschen ehemaligen CDU-Abgeordneten Martin Hohmann nahm 2006 an einer Konferenz von Holocaust-Leugnern in Teheran teil und gilt in Antwerpen als Paria. In der jüdischen Zeitschrift Joods Actueel befürchtet man, er könnte über seine Tochter politisch Einfluss nehmen.

 

Jüdisch ist nicht gleich jüdisch

Es sind turbulente Spätsommerwochen in der Antwerpener Politik. Für etwas Kontinuität sorgt da der Blick auf die Wahlliste der liberalen Partei Open VLD. Weit oben, auf Platz drei, steht der Name Claude Marinower. Der 63jährige ist seit 30 Jahren aktiv in der Kommunalpolitik und derzeit stellvertretender Bürgermeister und Schöffe für Bildung im Stadtrat. Marinower ist eine Art graue Eminenz jüdischer Politik in Antwerpen. Wie Gantman ist er Anwalt. Sein Büro liegt in der Nähe des Stadtparks, der grünen Lunge des jüdischen Viertels. Auf dem Bordstein davor sieht man chassidische Väter, die ihre Kinder auf dem Fahrrad transportieren, Jungen mit Schläfenlocken auf Rollern und zwei Soldaten, die mit Sturmgewehren patrouillieren.

Natürlich sei Sicherheit eines der zentralen Themen dieser Wahl, sagt Marinower, gerade hier im Viertel. »Wir hatten in den Achtzigern Anschläge hier, das vergessen viele. Alle zwischen 30 und 50 Jahren kennen nichts anderes als Betonblöcke vor jüdischen Einrichtungen. Dazu kam 2014 der Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel.« Marinower macht keinen Hehl daraus, dass die N-VA dabei ist, seiner Partei den Rang abzulaufen, auch und gerade weil sie sich als verlässlicher Beschützer darzustellen weiß. Zuvor waren die Liberalen die stärkste Kraft. Eine Verschiebung nach rechts spiele sich ab, eine, die jener des gesellschaftlichen Mainstreams ähnelt.

Nicht nur deswegen zieht Marinower ein bemerkenswertes Fazit: »Diese sogenannte jüdische Stimme gibt es nicht. Natürlich findet man neben jeder Reportage über Antwerpen ein Foto von Chassiden, aber das Viertel ist viel weniger homogen, als man denkt. Auch ›die jüdische Gemeinschaft‹, wie man immer hört, existiert so nicht. Es ist mehr so wie bei Golda Meir, die sich einmal ›Ministerpräsidentin von sechs Millionen Ministerpräsidenten‹ nannte. Ein Teil der Juden hier ist jedenfalls sehr weit entfernt von Politik und weltlichen Dingen.«

Eigentlich sei all der Aufwand, all das Werben um Antwerpens Jüdinnen und Juden ziemlich unverhältnismäßig, so Marinower: »Wenn wir von etwas über 20 000 Personen ausgehen und davon die Minderjährigen abziehen und diejenigen, die keine belgische Staatsbürgerschaft besitzen oder nicht registriert sind, schätze ich, dass es sich um 9 000 oder 10 000 Stimmen handelt. Aber man scheint zu hoffen, hier die eineinhalb oder zwei Prozent holen zu können, die am Ende den Unterschied machen können.«

Das verbreitete Unwissen über das jüdische Viertel und seine Bewohnerinnen und Bewohner habe Marinower schon in absurde Situationen gebracht, erzählt er. Etwa wenn er von Medienvertretern als »Repräsentant der jüdischen Gemeinschaft« angesprochen worden sei. Sein Selbstverständnis sei ein anderes: »Ich bin ein Politiker, der Jude ist. Ich bin Weltbürger, Europäer, Belgier, ich wohne im flämischen Teil des Landes, und ich bin auch Jude. Doch wenn ich dachte, dass sei als Politiker nicht relevant, gibt es immer andere Menschen, die mich daran erinnern. Ganz so, als wären meine Ideen zur Bildung deswegen anders.«

Marinower verabschiedet sich zu einem Termin. Er muss eine Gruppe US-amerikanischer Studierender einer summer school empfangen. Danach bringt ihn seine Fahrerin ins Parteihauptquartier, wo er seine Plakate in Empfang nehmen wird. Die heiße Phase des Wahlkampfs steht bevor. Auf die Frage, ob das jüdische Viertel dabei eine besondere Rolle spielen werde, sagt er: »Sie sehen auch bei türkischstämmigen Kandidaten, dass sie in den entsprechenden Vierteln sehr aktiv sind. Daran ist auch nichts Seltsames. Man probiert, dort Stimmen zu holen, wo man bekannt ist. Etwas anderes ist es, wenn dieser Aspekt deine Politik beherrscht. In meiner Politik aber ist nichts Spezifisches. Ich versuche zu helfen, wo ich kann – egal, ob es um eine jüdische Schule geht oder eine türkische.«