Die Jazzszene in London lebt und wächst

London’s still swinging

Die junge Jazzszene in der britischen Hauptstadt wächst beständig, die musikalischen Einflüsse stammen aus der ganzen Welt. Thematisiert werden häufig der britische Kolonialismus und seine Nachwirkungen.

Die Fassade des Hauses Portobello Road Nummer 265 wirkt unscheinbar. Das Haus ist im viktorianischen Stil erbaut: drei Stockwerke, schmale Eingangstür, ornamentierter Fenstersims, auf dem Dachsims eine fingerdicke Schicht Taubenkot, die grauschwarz und schmierig dort klebt, wie um die letzten verbliebenen Fetzen Putz am Abbröckeln zu hindern. All das ist typisch für den Londoner Stadtteil Notting Hill. Vielleicht für die britische Hauptstadt überhaupt – vergilbte Überbleibsel imperialen Prunks, die schleichend verfallen. Doch die breiten Flügeltüren im Erdgeschoss stechen heraus. Sie sind in grellem Gelb gestrichen. Darüber hängt an zwei aufwendig verzierten Stahlträgern ein schwarzes Schild: Mau Mau Bar. Hinter einem schweren roten Samtvorhang im Innern der Bar versteckt, liegt ein Veranstaltungsraum. Die Bühne, ein sechseckiger Bretterverschlag, ist so winzig, dass es schwerfällt, sich allein eine Handvoll Instrumente, geschweige denn Menschen darauf vorzustellen. Und doch findet hier seit einigen Jahren jeden Donnerstag »Jazz Re:freshed« statt. Die wöchentliche Konzertreihe von Adam Moses und Justin McKenzie hat sich inzwischen, zusammen mit Veranstaltungen des Café Oto im Ortsteil Dalston, zum Zentrum einer jungen Londoner Jazzszene entwickelt, die abseits der ausgetretenen Pfade des Genres mit einer befreienden Unvoreingenommenheit zu Werke geht.

Dort, wo Musik nicht mehr eindeutig einem Genre zugeschrieben werden kann, ist Gilles Peterson selten weit entfernt. Seit Gründung folgt das Plattenlabel konsequent der Maxime seines Initiators, diesen musikalischen Hybriden die Möglichkeit zur Veröffentlichung zu bieten.

Dass sie dabei ausgerechnet im von der Gentrifizierung nicht verschont gebliebenen Notting Hill gelandet ist, hat zumindest in historischer Hinsicht Symbolwert. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs galt das Viertel als erste Anlaufstelle vieler Einwanderer, vor allem aus der Karibik, die in der zerbombten Kapitale des Empire Arbeit und eine gesicherte Existenz suchten. Doch die viktorianische Fassade des Viertels täuschte. Die Wohnsituation war katastrophal; die größtenteils unsanierten Häuser wurden zimmerweise vermietet, so dass sich ganze Familien auf engstem Raum zusammengepfercht und der Willkür der Hauseigentümer ausgeliefert sahen. Zudem schwelte unter den Teddy Boys in der britischen Arbeiterklasse bereits eine latente Abneigung gegen Einwanderer, die von rechten Gruppierungen wie Oswald Mosleys Union Movement noch befeuert wurde und sich letztlich in den Notting Hill race riots von 1958 Bahn brach, bei denen über mehrere Tage hinweg Mobs bestehend aus bis zu 400 Personen Häuser von Migranten angriffen. Als Reaktion auf die rassistischen Ausschreitungen organisierte die schwarze Bürgerrechtlerin Claudia Jones im Jahr darauf den Caribbean Carnival, der unter der Losung »A people’s art is the genesis of their freedom« stand, um damit zu verdeutlichen, dass Kultur – und das meint hier zunächst jene der ­afrokaribischen Diaspora – als Ausdrucksform eines emanzipatorischen Kampfs zu verstehen sei.

In den Folgejahren wurde aus dem Caribbean Carnival der bis heute alljährlich stattfindende Notting Hill Carnival. Dessen prägender Einfluss auf die britische Popkultur, insbesondere die aus Jamaika stammende Sound System Culture, die in den Straßenzügen des Viertels eine zweite Heimat fand, ist kaum zu unterschätzen. Denn zusammen mit den Türmen aus Boxen, Plattenspielern und den darauf thronenden MCs wanderten mit Reggae und Dub zugleich Musikstile ein, die die britische Popmusik, allen voran den Punk und später auch elektronische Ableger wie Drum & Bass, dauerhaft beeinflussten.

Nur wenige Meter neben dem Eingang der Mau Mau Bar verläuft auf einer Überführung die Autobahn M40. Folgt man ihr in Richtung Innenstadt bis zum Regent’s Park und biegt dort links ab, erreicht man nach knapp 30minütiger Fahrt Brownswood Park. Dort, in einem ähnlich unscheinbaren Reihenhaus in der Brownswood Road Nummer 29, befindet sich seit knapp zwölf Jahren das Hauptquartier von Brownswood Recordings. Es ist das Plattenlabel von Radio-DJ Gilles Peterson. In seiner Sendung »Worldwide«, die 1998 im Radioprogramm BBC1 (das auch John Peel und dessen berühmte »Peel Sessions« beheimatete) gesendet wurde und inzwischen jeden Samstagnachmittag auf BBC6 Music zu hören ist, bewegt sich Peterson seit beinahe zwei Jahrzehnten durch die Musikwelt. Seine Vorlieben sind nahezu unüberschaubar breitgestreut und umspannen getreu dem Titel der Sendung beinahe den gesamten Globus – von kubanischer Clubmusik über britischen Acid Techno hin zu japanischem Free Jazz und Afrobeat. Dabei sind es insbesondere jene Grauzonen, die sich zwischen verschiedenen Genres erstrecken, die er immer wieder gekonnt durchforscht. Dort, wo Musik nicht mehr eindeutig einem Genre zugeschrieben werden kann, ist Gilles Peterson selten weit entfernt. Seit Gründung folgt das Plattenlabel konsequent der Maxime seines Initiators, diesen musikalischen Hybriden die Möglichkeit zur Veröffentlichung zu bieten. Das zeigten bereits die ersten Releases, darunter eine Platte des japanischen Jazz-DJ-Kollektivs Soil & »Pimp« Sessions, macht sich aber auch im aktuelleren Output bemerkbar, der einmal mehr Petersons Faible für experimentierfreudigen Jazz zeigt.

Viele der Musiker, die bei »Jazz Re:freshed« spielen, sind in der einen oder anderen Konstellation auch auf Brownswood vertreten. Erst vor kurzem ist mit »We Out Here« ein Sampler erschienen, der viele Protagonisten der Szene versammelt, ­darunter den Schlagzeuger Moses Boyd, der im vergangenen Jahr zusammen mit dem Saxophonisten Binker Golding »Journey to the Mountain of For­ever«, ein von der Vorstellung einer Utopie beflügeltes Album, veröffentlichte.