Manfred Flügges Buch »Stadt ohne Seele« und der »Anschluss« Österreichs

Epidemische Gehirnerschütterung

Am »Anschluss« Österreichs im März 1938 ließe sich die Annahme prüfen, das Land verkörpere den nationalsozialistischen Wahn in besonderer Reinheit. Manfred Flügge deckt das Ereignis stattdessen mit Geschichten zu.

Zwei Vorlieben machen sich in der Historiographie seit einigen Jahren bemerkbar: die Orientierung an emblematischen Jahreszahlen und die Neigung zum Fabulieren. Beide Tendenzen dürften sich auch dort, wo sie theoretisch begründet werden, wenigstens teilweise dem Wunsch nach Marktgängigkeit der eigenen Produkte verdanken. Weil es in jedem Jahr historische Ereig­nisse gibt, deren mehr oder minder rundes Jubiläum gewürdigt werden kann, geht einem der Stoff, dessen Bearbeitung sachlich gar nicht mehr legitimiert werden muss, niemals aus. Und weil Geschichte sich besser liest, wenn sie als Schmöker statt als Studie oder Traktat präsentiert wird, sind Historiker schon habituell geneigt, zu Geschichtenerzählern zu werden.

Einige Vor- und viele Nachteile dieser Neigung lassen sich an Manfred Flügges Buch »Stadt ohne Seele« illustrieren, das den achtzigsten Jahrestag des »Anschlusses« Österreichs an das nationalsozialistische Deutsch­land, als in der Nacht vom 11. zum 12. März 1938 österreichische Nationalsozialisten das austrofaschistische Ständestaatregime entmachteten, zum Anlass eines mosaikhaften Mentalitäts- und Sittenbildes nimmt. Flügge, Historiker und Romanist, hat zwölf Jahre an der Freien Universität Berlin gelehrt und arbeitet heute als Übersetzer und freier Autor. Seine belletristische Historiographie feierte vor drei Jahren mit dem Bestseller »Das Jahrhundert der Manns« besondere Erfolge. Der Titel seines neuen Buches greift den Topos von der Bedeutung der »Seele« im österreichischen Gefühlshaushalt auf, der in der Bezeichnung der Wiener ­Moderne als »Nervenkunst« (Michael Worbs) und von Freud als »Vater der modernen Seelenkunde« (Flügge) anklingt.

 

Auch unerwartete Protagonisten betreten Flügges Bühne, etwa Eugen Kogon, Verfasser von »Der SS-Staat« und Mitbegründer der linkskatholischen »Frankfurter Hefte«.

 

Dass das Volk mit den überempfindlichen Nerven zu Akten singulärer Bestialität fähig war, zeigte sich in den antisemitischen Spontanpogromen in den Wochen nach dem 12. März, als die Wehrmacht schwerbewaffnet unter dem Jubel der Bevölkerung in Österreich einmarschierte und Hitler am selben Abend vom Balkon des Linzer Rathauses aus den »Anschluss« für vollzogen erklärte.

»Ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht«, schreibt Flügge, wurden Wiener Juden von der Bevölkerung »zusammengetrieben und gezwungen, Froschhüpfe zu machen und selbst zu rufen ›Juda verrecke‹ oder ›Ich bin ein Saujud‹.« Dennoch hebt er in seiner Darstellung der Wochen nach dem »Anschluss« und deren Vorgeschichte hervor, dass sich die Spontaneität antisemitischer Barbarei in Österreich nicht einfach als besonders reine Erscheinungsform des deutschen Nationalsozialismus verstehen lässt. Wenn Hitler den »Anschluss« mit den Worten bekanntgab, er melde »vor der deutschen Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich«, wurde damit jedenfalls keine schlichte Heimkehr, sondern die Einfügung Österreichs in die umfassendere Ordnung des »Reichs« proklamiert. Waren in Deutschland das Arbeitsethos des Protestantismus und ein sich heidnisch gebender Atheismus Quellen des nationalsozialistischen Antisemitismus, nahm in Österreich diese Stellung der Katholizismus ein, der in Gestalt des Klerikalfaschismus den Nazis keineswegs nur freundlich gesonnen war. Die nationalsozialistische Identifikation der Juden als Verkörperung von Abstraktion, Zirkulation und Vergleichung koexistierte in Österreich mit dem Affekt gegen ein als archaisch, nomadisch und vormodern konnotiertes Ostjudentum, in dem Erfahrungen kultureller Widersprüche aus der Zeit des Habsburger Reichs fortlebten.

An Kurt Schuschnigg, der von 1934 bis zum März 1938 als »Bundeskanzler« im austrofaschistischen Österreich und seit 1936 auch als »Frontführer« der österreichischen Einheitspartei Vaterländische Front fungierte, zeigt Flügge Nähe und Differenz zwischen Austrofaschismus und Nationalsozialismus. Schuschnigg widersprach dem nationalsozialistischen Rassenprinzip und Blutmythos, unterstützte die antisemitische Politik der Nazis aber als Beitrag im Kampf »gegen uferlose Ostjudenüberschwemmung«. Der Judenhass, der für Schuschnigg vor allem gleichsam lokalpatriotisch als »Wiener Antisemitismus« in Betracht kam, galt ihm als »wirtschaftlicher Existenzkampf der Bodenständigen« gegen »artfremde« Konkurrenz. Die gegen die Zirkulationssphäre gerichteten Affekte des nationalsozialistischen Antisemitismus waren in Schuschniggs Weltbild überformt durch ­rassistische Vorstellungen vom Ostjuden als schmarotzenden Sub­alternen. Nach dem »Anschluss« war Schuschnigg, der Hitler mit einer ­Mischung aus Faszination und Furcht begegnete, als »Schutzhäftling« in Konzentrationslagern inhaftiert und ging nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit seiner Familie in die USA, wo er in St. Louis an einer Jesuitenhochschule Staats- und Politikwissenschaft lehrte.

Flügges Buch, das ausgehend von den Wochen im März 1938 zurück- und vorgreifend die Geschichte des »Anschlusses« erzählt, bietet ein ­Kaleidoskop solcher Episoden, in dem sich unterschiedliche Einzelbiographien verbinden. Am Anfang und Ende steht die Emigration Freuds im Juni 1938, die Flügge als Auswanderung der Wiener »Seele« aus ihrer angestammten Stadt begreift. Andere Protagonisten, deren Lebensgeschichten leitmotivisch begegnen, sind auf Seite der österreichischen Juden der zwei Jahre vor dem »Anschluss« gestorbene Karl Kraus, der Europa infolge der Machtübertragung an die Nationalsozialisten in »Die Dritte Walpurgisnacht« eine »epidemische Gehirnerschütterung« attestiert und den Nazismus als Verschmelzung von »Elektrotechnik und Mythos«, von Rationalität und Archaismus beschrieben hatte; der »Bambi«-Autor Felix Salten, der auf dem PEN-Kongress in Ragusa im Jahr 1933, zum Ärger von Karl Kraus, eine Resolution unterbinden wollte, in der die in Deutschland gebliebenen Autoren verurteilt wurden; der Monarchist Joseph Roth, Befürworter des Ständestaates, der den »Anschluss« um ­gerade einmal ein Jahr überlebte; Hermann Broch, der im März 1938 kurzzeitig verhaftet wurde und wenig später nach Großbritannien und dann in die USA emigrierte.

Auf der Seite der austrofaschistischen Ös­terreicher treten neben Egelbert Dollfuß, dem 1934 von österreichischen Nationalsozialisten ermordeten Begründer des Ständestaates, auch ­Arthur Seyß-Inquart, der nach dem Rücktritt Schuschniggs im März 1938 als Bundeskanzler vereidigt wurde, und Wilhelm Miklas, bis 1938 Bundespräsident des Bundesstaats Österreich, auf.

Auch unerwartete Protagonisten betreten Flügges Bühne, etwa Eugen Kogon, Verfasser von »Der SS-Staat« und Mitbegründer der linkskatholischen Frankfurter Hefte. Kogon hatte 1927 die österreichische Staatsbürgerschaft erworben, war bis 1934 Chefredakteur des rechtskonservativen Österreichischen Beobachter gewesen und stand 1938 ebenfalls auf den Verhaftungslisten der Nationalsozialisten. Dass zu Kogons Lehrern neben Hans Kelsen Othmar Spann zählte, der mit seiner Studie »Faschismus und Korporativstaat« zu den Anregern des Austrofaschismus gehörte, animiert Flügge wiederum dazu, »interessante Parallelen« zwischen Kogon und Eric Voegelin zu ­erkennen, der ebenfalls in Wien aufwuchs und 1938 in die USA emigrierte, wo er als Theoretiker der »politischen Religionen« wirkte. Voegelin indessen hatte in frühen Jahren Kontakte zum George-Kreis, dessen elitistisches Selbstverständnis ihn prägte, während Kogons Linkskatholizismus die Nähe zur einfachen ­Bevölkerung kultivierte.

Flügges Neigung, überall »Parallelen« zwischen Personen zu entdecken, die kaum etwas anderes gemeinsam haben, als dass der Autor sie als Personal seiner Wien-Anek­doten braucht, führt immer wieder in die Irre, am drastischsten wohl, wenn er Freuds Lektüren biblischer Mythen mit Hitlers Versuch vergleicht, zum lebenden »Mythos« zu werden. Fragt man bei irgendeiner der zahllosen Geschichten, die Flügge lediglich am Rand des Datums des März 1938 miteinander assoziiert, genauer nach, erweist sich, was als Mosaik erscheint, bald als Kuddelmuddel angefangener oder zu früh abgebrochener, lässig recherchierter Anekdoten, deren Zusammenhang­losigkeit durch triviale Phantasie übertüncht wird. Dass »das goldene Wiener Herz«, als Freud die Stadt im Juni 1938 verließ, »jeden Glanz verloren« hatte, wie Flügge zu Protokoll gibt, lässt sich jedenfalls weder in Freuds Schriften noch in Wiener Chroniken, sondern nur im Wörterbuch der Gemeinplätze überprüfen.

 

Manfred Flügge: Stadt ohne Seele. Wien 1938, Aufbau-Verlag: Berlin 2018, 480 Seiten, 25 Euro.