Eine Kritik von Ina Hartwigs Ingeborg-Bachmann-Biographie

Die Unfähigkeit zu verstehen

Die Literaturwissenschaftlerin Ina Hartwig will die Biographie Ingeborg Bachmanns neu erzählen. Leider bleibt ihre Darstellung längst bekannten Klischees verhaftet.

»Wer war Ingeborg Bachmann?« fragt die Literaturwissenschaftlerin Ina Hartwig im Titel ihres kürzlich erschienenen Buches, das als psychologische Studie über die Autorin, ihre Drogensucht, ihren Alkoholismus und ihren spektakulären Tod in Rom angelegt ist. Die berühmte österreichische Dichterin starb am 17. Oktober 1973 an den Verletzungen, die sie sich bei einem Brand in ihrer Wohnung in der Via Giulia zugezogen hatte. Mit einer Zigarette hatte sie versehentlich ihr Bett in Brand gesetzt. Vermutlich stand sie unter dem Einfluss von Alkohol und Psychopharmaka. Da ihre starke Medi­kamentenabhängigkeit von den Ärzten nicht bemerkt wurde, litt sie im Krankenhaus unter massiven Entzugserscheinungen, die für ihren Tod mitverantwortlich sein sollen. Dieses Sterben, das sich über drei Wochen hinzog, gehört seit Jahrzehnten zu den Lieblingsgeschichten des gehobenen intellektuellen Klatsches im deutschen Sprachraum und den gern verklärten Todesmythen der Neuen Linken.

Trotz der oft konservativen Formensprache ihrer Gedichte und ihres weitgehend unpolitischen Auftretens gilt Ingeborg Bachmann als Ikone der Achtundsechzigerbewegung. Auch Hartwig folgt diesem Muster und beginnt ihre Darstellung geradezu konventionell mit der Szenenfolge am Sterbebett und dem Auftritt verschiedener Freundinnen und Freunde der Dichterin. Deren Privatleben ist Gegenstand obsessiver Durchleuchtung, während vom Werk Bachmanns fast nirgendwo auf den 300 Seiten die Rede ist. Kaum wird daraus zitiert, selten auf einzelne Gedichte oder Texte verwiesen. Im Mittelpunkt dieser »Biographie in Bruchstücken« (Hartwig) stehen nicht die künstlerischen Arbeiten der hochbegabten, schon zu Lebzeiten gefeierten Dichterin, sondern ihre Beziehungen zu anderen meist gleichfalls berühmten Künstlern ­ihrer Zeit.

 

Dass die Darstellung Hartwigs nicht unter die Rubrik »Klatsch« fällt, liegt an ihrem Gegenstand, an den Beziehungen Bachmanns, die – wie gnadenlos man sie auch immer ausschlachtet – den Charakter des Unschuldigen und Bedeutenden wahren.

 

Dass die Darstellung Hartwigs nicht unter die Rubrik »Klatsch« fällt, liegt an ihrem Gegenstand, an den Beziehungen Bachmanns, die – wie gnadenlos man sie auch immer ausschlachtet – den Charakter des Unschuldigen und Bedeutenden wahren. Im Zentrum der Tragödie Ingeborg Bachmanns entdeckt Hartwig – wie schon mancher andere – die unerfüllte, dramatische Liebesbeziehung zu dem jüdischen Dichter Paul Celan.
Die Beziehung verlief mit Interruptionen, Phasen der Annäherung und Abstoßung, ja der Flucht voreinander (heute würde man von einer On-off-Beziehung sprechen) und fand in einem Briefwechsel über zwei Jahrzehnte, von 1948 bis 1967, ihren Niederschlag.

Im Medium des schriftlichen Austauschs sind sich diese zwei zutiefst literarischen Menschen nähergekommen als in den schwierigen, von ­äußeren Problemen beeinträchtigten Tagen physischen Beisammenseins. Celan war kein einfacher, kein umgänglicher, er war vielleicht überhaupt kein Partner. Seine Einsamkeit empfand er als unvermeidlich, nachdem die Nazis seine Eltern und andere Angehörige umgebracht hatten. Dieser empfindsame Überlebende hat das Grauen der Vernichtungslager in die kühl wirkenden Verse seines berühmten Gedichts »Todesfuge« gebracht und damit – nebenbei – Adornos despotisches Diktum widerlegt, es sei barbarisch »nach Au­schwitz ein Gedicht zu schreiben«.

Der in Paris lebende Celan war ein therapiebedürftiger, nach dem Verlust seiner im Holocaust ermordeten Familie zutiefst verstörter junger Mann, heimgesucht von depressiven und paranoiden Anwandlungen, dessen tragisches Ende – er ertränkte sich 1970 in der Seine – nicht nur einer, sondern einem ganzen Komplex von Ursachen zuzuschreiben ist. Fünf Jahre zuvor war er in die Psychiatrie eingewiesen worden, nachdem er versucht hatte, seine Ehefrau und seinen Sohn zu töten. Seine Biographie vereint eine immense dichterische Begabung mit einer für Juden problematischen Fixierung auf die deutsche Sprache und einer durch den Holocaust verletzten Charakterstruktur. Dazu kamen enttäuschende, erniedrigende Erlebnisse im deutschen Literaturbetrieb.

Ingeborg Bachmann war Zeugin, wie Celan von der versammelten »Gruppe 47«, der damals maßgeblichen deutschen Literatenvereinigung, gedemütigt und verhöhnt wurde, als er dort im Mai 1952 zum ersten und einzigen Mal auftrat und die »Todesfuge« vortrug. So geschehen auf der Jahrestagung der Gruppe in Niendorf bei Lübeck. Die dummen Reaktionen tonangebender deutscher Literaten auf dieses Gedicht reichten von der Behauptung Hans Werner Richters, Celan lese »wie Goebbels«, über die verächtlich gemeinte Bezeichnung »Synagogen-Singsang« bis zu höhnischem Nachsprechen der berühmten Anfangszeile »Schwarze Milch der Frühe ...« Es war ausgerechnet Ingeborg Bachmann, die Celan zum Vortragen der »Todesfuge« angeregt hatte.

Der empfindsame Celan hatte dann allerdings den Eindruck, sie sei in der anschließenden Diskussion – von der Gruppe 47 als demonstrativ demokratisches Element im deutschen Nachkriegliteraturbetrieb eingeführt – nicht entschieden genug für ihn eingetreten. Er heiratete jedenfalls noch im selben Jahr eine andere Frau, die französische Comtesse Gisèle de l’Estrange. Mit Ingeborg Bachmann traf er sich weiterhin und unterhielt einen ausgedehnten, ­poetisch-intimen Briefwechsel. Die in Rom lebende Dichterin schrieb kurz nach Celans Selbstmord, zwei Jahre vor ihrem eigenen tragischen Tod, in ihrem autobiographischen Roman »Malina«: »Mein Leben ist zu Ende, denn er ist auf dem Transport im Fluss ertrunken, er war mein Leben. Ich habe ihn mehr geliebt als mein Leben.«

Nach Darstellung von Hartwig soll Hans Werner Richter wegen seiner bornierten, Celan schockierenden Reaktion auf die »Todesfuge« später Gewissensqualen empfunden haben, doch die betreffende Stelle in Richters Tagebüchern, die sie im ­Anhang zitiert, erweckt eher den Eindruck, als habe Richter nicht wirklich begriffen, warum der Jude Celan ihm, wie er schreibt, »nie verziehen« hatte. Weil Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger ihn, Richter, »unter wahren Tränenströmen immer wieder« bedrängten, habe er sich schließlich bei Celan für die höhnischen Bemerkungen entschuldigt, die er ganz absichtslos getätigt haben will. Auch der Literaturkritiker Helmut Böttiger versuchte in einem 2012 erschienenen Buch den Eklat in Niendorf nachträglich herunterzuspielen, etwa durch das Argument, Celan habe für seine Gedichte immerhin den »dritten Preis« bei der Wertung durch die Gruppe 47 erhalten. Was den Dichter, der sich – zu Recht – für erst- und nicht drittklassig hielt, eher noch tiefer erbittert haben dürfte.

Ob das unglückselige, missverständliche und inflationär gebrauchte Wort »Antisemitismus« das Verhalten der deutschen Kollegen zutreffend kennzeichnet, wie andere Autoren urteilen, wage ich dennoch zu bezweifeln. Eher war es Beschränktheit, Unverständnis, eine Unfähigkeit zu verstehen, die Celan aus dem deutschen Literaturbetrieb entgegenschlug. Und die er, bar jeder Leichtigkeit im Umgang mit den für seine Familie so schicksalhaften Deutschen, zu schwer nahm. Oder war es eine so tief sitzende Juden­verachtung, dass sie den davon Durchdrungenen nicht einmal bewusst war? Sie hätten diesen Vorwurf entrüstet zurückgewiesen, wie sie es auch heute tun.

Vom geschäftlichen Standpunkt sah Hans Werner Richter durchaus, was Deutschland mit dem Holocaust verloren hatte. Gegenüber dem Nachrichtenmagazin Spiegel begründete er im September 1952 das Fiasko einer von ihm herausgegebenen ­Literaturzeitschrift mit dem Mangel eines literaturverständigen deutschen Publikums: »Es fehlen heute in Deutschland 50 000 literarisch ­interessierte Juden, die es vorher gab.«

 

Ina Hartwig: Wer war Ingeborg Bachmann? Eine Biographie in Bruchstücken. S. Fischer, Frankfurt am Main 2018, 320 Seiten, 22 Euro