Mit Glenn O’Brien ist ein wichtiger Vertreter des New Yorker Underground ­gestorben

Als Sokrates mit Grace Jones Pogo tanzte

Er war eine der wichtigsten Personen der New Yorker Punk- und Kunstszene: Glenn O’Brien. Vor kurzem ist der Journalist und Moderator einer durchgeknallten Talkshow gestorben.

»Ich bin ein Filmkritiker. Es ist die Hölle. Ich wäre lieber Visionär als Revisionist, drehte mich lieber in Spiralen als in revolutionären Schüben, flöge lieber, als zu kriechen; aber hier sitze ich vor einer Schreibmaschine und versuche, mit jemandem zu reden, der ein Kinomagazin liest, Filmstills anschaut und den leisen Klang meiner Stimme liest, die in seine Augen pickt. Ich spräche lieber zu einem Mann, der Träume in Technicolor sehen will und nichts liest außer irgendwelche Zeichen, aber – hier bin ich jetzt mit einem Leser, einem, der Zeit hat und weiß, dass auch ich Zeit habe.« Glenn O’Brien ist noch jung, als er diese irgendwie passiv-aggressiven Sätze schreibt. 1970 ist er eben von der Universität gekommen und wird mit 23 Jahren bereits Redakteur bei Andy Warhols Interview, einem Magazin, das ebenso gut als Sozialexperiment durch­gehen kann: Film, Mode, Stars, Schnappschüsse, irre Gesprächsdokumentationen, unzensiert abgedruckt, dazu Essays und Gerüchte.

Glenn O’Brien hat Film studiert, was sich in seinen ersten längeren Texten deutlich niederschlägt. 1971 erklärt er die Rolling Stones mit Antonin Artauds Ansatz des Theaters der Grausamkeiten und mit Ansätzen einer Sprache, die bald, in den ­späten Siebzigern und frühen Achtzigern, als er sich der Musikszene ­zuwandte, unverkennbar werden sollte.

Während in Deutschland Helmut Salzingers journalistische Artikel als Avantgarde gelten und Lester Bangs in den USA sich an Männern und Authentizität abarbeitet, lässt Glenn O’Brien in seinen »Beat«-Texten die Funken sprühen. »Beat«, das ist die amphetaminbefeuerte Kolumne, die O’Brien 1977 in Warhols Interview übernimmt. Der Name ist passend, Rhythmus und Schläge bestimmen den Fluss der Sprache. O’Brien spürt absurde Geschichten auf, er spielt mit Zitaten, allerlei Bezügen aus Philosophie, Hoch- und allen Winkeln der Trivialkultur. Und er erfindet Worte für Phänomene und Szenen, die zuvor noch niemand beschrieben hat.

Glenn O’Brien besaß die Chuzpe, zwischen Geschichten über den heißesten Scheiß aus dem New Yorker Nachtleben plötzlich Besprechungen von Aerobic-Platten unterzubringen und mit seiner Mutter über Brian Eno zu reden.

Diesen unerhörten Phänomenen kann man in »Beat« jeden Monat begegnen. »The news of the worldwide street is related in kung fu amusing stream of self-conciousness«, schreibt er im Februar 1980 – es geht um ­HipHop. »Eine der phantastischsten Entwicklungen im Bereich ›Amüsement‹ war in der jüngsten Vergangenheit ein neuer Musikstil, der auf den Straßen New Yorks herumspringt, aus Kassettenrekordern hämmert und die Parks für sich einnimmt. Dieser Stil, ein an das Mutterschiff Disco gerichteter Einspruch, ist der Vereinigung von Poesie und Tanzmusik zuträglicher als alles andere, was bisher auf diesem Kontinent zu hören war. Es ist der Telegraph des Dschungels.«
Am meisten aber beschäftigen ihn Punk und New Wave: »Ich glaube, die Rolling Stones nennen sich noch immer die Größte Rock ’n’ Roll-Band der Welt, aber damit kommen sie nicht mehr lange durch. Zum einen, weil niemand so etwas wie die Größte Rock ’n’ Roll-Band der Welt braucht – vor allem wenn man in ein Stadion gehen muss, um sie zu sehen. Zum anderen, weil es ein paar Bands gibt, die die Stones von jeder Bühne fegen würden. Wie die Ramones – es wäre ein großer Spaß, ihnen zur Krönung zu verhelfen. Und ja, diesen Monat gebe ich den Ramones den Titel: Die Ramones sind die Größte Rock ’n’ Roll-Band der Welt! Und sie rollen nicht einmal richtig – nicht so sehr wie die Sex Pistols beispielsweise«, schreibt er Ende 1977. Über Grace Jones: »Streicher können in tanzbarer Musik wirklich geschmacklos klingen. Hier aber klingen sie romantisch. Guck’s dir mal an, Barry White!« Die Talking Heads: »Aufrichtigkeit ist schockierender und schwerer abzulegen als ein Nylonstrumpf über dem Kopf.«
Glenn O’Brien besitzt ein gutes Gespür für Trends, für den Puls der Gegenwart, auch da, wo er erst schwach schlägt. Aber eben auch die Chuzpe, zwischen Geschichten über den heißesten Scheiß aus dem New Yorker Nachtleben plötzlich Besprechungen von Aerobic-Platten unterzubringen, Salsa mit seiner Mutter zu tanzen – und ihr Brian Eno vorzuspielen: »›Mein Gott, was ist das?‹, fragte sie und schaute zu den Röhren der Klimaanlage, in ihrem Kopf vielleicht die Fluchtwege des Hochhauses abschreitend. ›Eine Schallplatte‹, sagte ich. ›Oh!‹, sagte sie und atmete erleichtert auf. ›Wie furchtbar.‹«

Apropos Unverfrorenheit: Mit »T.V. Party« mischt er das öffentliche Fernsehen von New York City auf. Ab 1978 lädt er die schärfsten Gestalten der Szene zur Party ins Fernsehstudio ein: Blondie-Sängerin Debbie Harry erklärt Pogo, der queere Countertenor Klaus Nomi backt Zitronenkuchen, konzeptlose Nonsens-Interviews folgen, Konzerte und Vorträge gehen ineinander über – ein anarchisches Durcheinander, das Bild verschwimmt immer wieder. Und all das live bei Manhattan Cable. 
Schließlich gehen O’Brien diese Chuzpe und Magie doch verloren. Weil das Tempo nicht aufrechtzuerhalten ist, vielleicht, oder aus Langeweile – oder weil sich die Welt verändert hat, vor allem New York, die Stadt, die für Glenn O’Brien so prägend war. War er lange Zeit eine Schlüsselfigur des New Yorker Underground – für Punks, Waveheads und die verbündeten Kunstszenen gleichermaßen –, wird er in seinen letzten Jahren zu etwas noch seltenerem: einem Dandy ohne zu offensive Peinlichkeiten. In seiner Kolumne »Style Guy« beim Männer-Lifestyle-Magazin GQ und in seinen Büchern versucht er, das Verhältnis von Männern zu ihrem Körper und der Mode neu zu justieren. Dabei kommt O’Briens heterosexuelle Männlichkeit ohne Machismo aus, er umarmt Ängste, Homosexualität und Feminismus. Selbst wenn er sein Buch »How to Be a Man« von 2011 da­hingehend kommentiert, dass Männer Tiere seien, folgt für ihn daraus vor allem, sie sollten keine Langstreckenflüge absolvieren – das würde man Hunden schließlich auch nicht zumuten. Seine Texte sind selbstsicher und weisen einen Hang zur Routine auf: witzig, aber doch immer ähnlich. Auch ein charismatischer angejahrter Dandy, den der Rolling Stone »Renaissance-Mensch« nennt, ist am Ende ein alter Mann, der ahnt, dass allzu viel Lebensweisheit auf junge Generationen onkelig wirken könnte.

»Die Musik ist mehr als alle anderen Künste mit der Zeit verbunden. Nicht nur hat sie eine zeitliche Form, auch ihr Inhalt weist offenkundig auf vergangene oder ›zukünftige‹ musikalische Moden und ihre ­Gefühlslagen hin. In dieser Beziehung ist Musik effektiver als bildende Kunst. Musik ermöglicht, die Gehirnströme etwa der Renaissance zu bewahren«, hatte er bereits 1978 geschrieben. Am 6. April starb Glenn O’Brien nach langer Krankheit in New York City. Er wurde 70 Jahre alt.