Kein Land mehr
Unter den 1,2 Millionen Menschen, die seit September 2015 nach Deutschland geflohen sind, befinden sich auch einige Schriftsteller. In ihrer Heimat waren sie teils vielbeachtete Autoren, bevor sie wegen Krieg und Terror nicht nur ihre geographische, sondern auch ihre kulturelle Heimat verlassen mussten. Die nun im kleinen, erlesenen Secession-Verlag erschienene Anthologie »Weg sein – hier sein« versammelt Texte von 19 Schriftstellern aus Syrien, Iran und dem Jemen, die seit Kurzem im Exil in Deutschland leben. Sherko Fatah, ein in Deutschland aufgewachsener Autor mit einem irakischen Vater, einer größeren Leserschaft bekannt geworden durch Romane wie »Grenzland«, »Das dunkle Schiff« oder »Der letzte Ort«, bemerkt in seinem Vorwort: »Die große Reise, welche die Flucht für so viele in unseren Tagen bedeutet, findet ihr Ende nicht mit der Ankunft im anderen Land.« Und so beschäftigen sich einige Texte mit dem Rückblick auf die Heimat und den Nachwehen der Flucht.
Zu Recht weist Sherko Fatah im Vorwort darauf hin, dass man die geflüchteten Autoren nicht allein wegen ihrer dramatischen Biographie lesen sollte, und warnt vor einem »Biographismus«.
Aref Hamza, ein in Syrien mit vielen Preisen ausgezeichneter Schriftsteller, spricht in seinem Langgedicht »Wie der Tropf an ihrer Hand« über seine Entfremdung von der Heimat. Seine Strophen sind sentenzenhaft-knapp und von großer Kraft: »Ich werde nicht in mein Land zurückkehren als syrischer Staatsbürger/sollte der Krieg aufhören/Auch nicht als Kurde oder Araber/Ich werde als Flüchtling zurückkehren.« Trocken stellt er über sein neues Leben in Buchholz in der Nordheide fest: »Ich bin einsam./Ich habe kein Land mehr./Meine Nachbarin ist einsam geworden./Sie hat keinen Hund mehr.« Dass er die Lage in seinem Heimatland nicht beschönigt, machen seine bislang erschienenen Texte deutlich: Titel wie »Das Leben aus Sicht eines Scharfschützen« oder »Amputierte Füße« sprechen eine deutliche Sprache. Aber er wünscht sich einen würdevollen Umgang mit den Neuankömmlingen in der neuen Heimat, möchte nicht als Almosenempfänger wahrgenommen werden – so formulierte er es zuvor in seinem Gedichtband »Ich möchte nicht gerettet werden«.
Bei der jungen Lyrikerin Noor Kanj, die 2014 über den Libanon nach Deutschland floh und zunächst von einem Stipendium der Böll-Stiftung im Heinrich-Böll-Haus Langenbroich lebte, klingt ebenfalls Stolz an, wenn sie in ihrem Gedicht »Patt« formuliert: »Bei dem Zug, bei dem man dir sagt:/›Schach‹/musst du wissen,/dass du ein König warst/König von irgendetwas vielleicht von deinem Zimmer!«
Der Leser denkt mit Schrecken an die beinahe täglichen Meldungen von rassistischen Übergriffen in Deutschland, wenn er diese hoffnungsvollen Zeilen liest: »Die Lichter … /die neuen Gesichter … /und die Gerüche/werden dich leiten … «
Auch das Zurücklassen der eigenen kleinen oder großen Privatibliothek ist ein Thema. Auf einer Veranstaltung der Berliner Bücherfrauen im Literaturhaus Berlin mit dem Titel »Geflüchtete Autorinnen – Women in Exile« erzählte die 1985 in Kobanê geborene Kurdin Widad Nabi von ihrer Flucht auf dem Seeweg. Nabi, die auch in dem Band »Weg sein – hier sein« vertreten ist, musste alle ihre Bücher, inklusive der eigenen Titel, zurücklassen. Alles, was sie mitnehmen konnte, war ein Foto ihres verstorbenen Vaters, das sie jedoch während der strapaziösen Flucht verloren hat.
In Aleppo erschien vor vier Jahren Nabis Gedichtband »Zeit für Liebe, Zeit für Krieg«. Mit dem Krieg beschäftigt sich auch ihr neues Buch »Syrien und die Sinnlosigkeit des Todes«.
Die Situation in Syrien ist ein zentrales Thema. In »Letzte Seufzer der Sonne« berichtet der 1966 in Damaskus geborene Daher Ayta über den Anfang der Revolution. Man liest von der Angst der Bevölkerung vor der Staatssicherheit, von spielenden Jungen auf der Straße, die Nachbarn selbstverständlich leise warnen, »damit sie dich nicht umbringen«, und über das Rattern von Gewehrsalven auf einer Demonstration.
Einige der in der Anthologie vorgestellten Autoren waren im Widerstand und in der humanitären Hilfe aktiv. Es fällt auch auf, wie viele von ihnen Rechtswissenschaften studiert haben. Die aus Damaskus stammende Journalistin und Lyrikerin Khwala M. Dunia, die sich als Atheistin alawitischer Abstammung bezeichnet und Mitglied des Komitees für die Verteidigung der Menschenrechte ist, dokumentierte als Journalistin die Revolution. Im Herbst 2011 wurde sie festgenommen und verbrachte ein halbes Jahr im Gefängnis. In ihrem Gedicht »Eilmeldung« konstatiert sie: »Es ist ganz einfach/ein Scharfschütze schießt auf hastige Füße/ein Auge blickt vom Minarett herab./Das Herz der Heiligen weint./Wenn eine Witwe sie anfleht/stürzen Häuser ein und es bellen die Bomben.«
Dunia floh vor vier Jahren in den Libanon und später weiter nach Deutschland. In zahlreichen Veröffentlichungen hat sie sich insbesondere mit der Lage der Frauen in Syrien beschäftigt. Unter welchen Bedingungen sie oft schreiben musste, verdeutlicht der Titel ihres 2012 erschienenen ersten Gedichtbands »Overhasty Poems Before the Missile Falls«. Auf Deutsch erschien von ihr im selben Jahr der Essay »Der Aufstand der Frauen – Der Kampf um Würde und Gleichberechtigung« in dem von Larissa Bender edierten Band »Syrien, der schwierige Weg in die Freiheit«.
Zu Recht weist Sherko Fatah im Vorwort darauf hin, dass man die geflüchteten Autoren nicht allein wegen ihrer dramatischen Biographie lesen sollte, und warnt vor einem »Biographismus«. Dem Schriftsteller werde schnell eine Rolle zugewiesen, die immer dann »für die Öffentlichkeit aktiviert wird«, wenn »die Weltlage« es erfordere. Fatah wehrt sich gegen die Reduzierung auf das »Schicksal«, auf das Erlebte und Ereignishafte, »wovon man in ein paar anrührenden Sätzen berichten kann«. Man kann Fatahs lesenswertes Vorwort als ein vehementes Plädoyer für die Phantasie, das Imaginierte und Erfundene, die utopische Kraft der Kunst jenseits von Bericht, Dokumentation oder Tagebuch verstehen – wobei er politische Einlassungen keinesfalls versäumt und unter anderem auf die absurde Parallelität der Touristen- und der Flüchtlingsströme hinweist, die in den letzten Jahren gleichermaßen nach Berlin drängten.
In der vorliegenden Anthologie überzeugen auch die Texte, die nicht in die medial einfacher zu verwertenden Kategorien »Fluchtreminiszenz« oder »literarisches Zeitdokument« passen. So handeln Galal al-Alahmadis Gedichte nicht von der leidenden syrischen Bevölkerung oder vom Trauma des In-der-Fremde-Seins. Vielmehr bilden sie universale Paradoxien des menschlichen Daseins in verdichteten Miniaturen ab. Themen wie Erinnerung an das eigene Selbst vor zehn Jahren (»Auf dem Markt für alte Bücher«) oder das Warten auf einem Bahnhof (»Metapher«) finden bei ihm stets ihre gelungene poetische Entsprechung: »Ich war hier schon einmal, glaube ich/in einem anderen Leben/vielleicht als Regentropfen oder als Zug.«
Der 29jährige Galal al-Alahmadis, in Saudi-Arabien geboren und im Jemen aufgewachsen, hat es in der arabischsprachigen Welt schon zu einigem Ruhm gebracht. Er hat ein Gespür für ungewöhnliche Bilder, die beim Leser haften bleiben, und wird hoffentlich als Lyriker in Deutschland noch viel Beachtung finden.
Zu Recht vermerkt Joachim von Zepelin, einer der beiden Verleger des Seccession-Verlags, in der Anthologie, dass in Deutschland über kaum ein Thema so viel gesprochen wird wie über die Geflüchteten, aber »die Betroffenen selbst nehmen daran nicht teil«. In dieser Anthologie kommen sie zu Wort – als Geflohene, aber vor allem auch als Schriftstellerkollegen, als neue Nachbarn, Menschen mit den unterschiedlichsten Gedanken und Empfindungen.
Weg sein – hier sein. Texte aus Deutschland. Secession-Verlag für Literatur, Zürich/Berlin 2016, 256 Seiten, 24 Euro