Hamed Abdel-Samads Buch über den Koran

Botschaften der Aufklärung

Hamed Abdel-Samad unterzieht den Koran einer kritischen Lektüre.

»Den Islam« gibt es nicht. Diesen Satz lernen alle Politikwissenschaftler, Friedensforscher und Islamkundler im ersten Semester. Nun hat aber der Islam eine Essenz, und das ist der Koran. Sicherlich wird die Sicht auf den »heiligen« Text in der langen Geschichte des Islam durch kulturelle Einflüsse geprägt, was aber nicht bedeutet, dass der Koran selbst in seinen Kernbeständen reformiert worden wäre. Um die These zu illustrieren, wonach der Koran Auslegungssache sei, wird gerne auch auf die unterschiedlichen Übertragungen verwiesen, ohne sich allerdings in die recht überschaubare Übersetzungsproblematik einzuarbeiten. All dies dient denjenigen, die eine religionskritische Perspektive auf den Islam unterbinden wollen, dem Zweck der Abwehr: Sie wollen den Koran nicht lesen.
Der ägyptisch-deutsche Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad hat mit seinem neuen Werk »Der Koran: Botschaft der Liebe. Botschaft des Hasses« ein Bollwerk gegen solche Beschönigungen errichtet. Als Sohn eines ägyptischen Imams in den theologischen Diskursen geschult, arbeitet er mit den arabischen Standardtexten, den Hadithen und den gebräuchlichen Biographien Mohammeds. Für das akademische Publikum zitiert er aus wissenschaftlich anerkannten deutschen Übersetzungen des Korans von Rudi Paret, Max Henning und Muhammad Asad. Der angenehm nahbare Stil des Autors macht das Buch auch für eine nichtakademische Leserschaft zugänglich.
Abdel-Samad geht zunächst chronologisch vor, er sortiert Suren nach ihrer Entstehung und ordnet sie in den geschichtlichen Kontext ein. In der Mekka-Phase war Mohammeds Sekte marginalisiert. Sie wurde verlacht, verachtet und mitunter diskriminiert. In dieser Situation fordert Mohammed Toleranz. Diese sollte aber nicht mit den Toleranzgeboten einer Mehrheitsgesellschaft gegenüber Minderheiten verwechselt werden. Wenige Gesetze sind tatsächlich fortschrittlich: die Fürsorgegebote für Waisen, die Almosenpflicht, das Verbot der Kindstötung von Mädchen. Der Judaismus und das kaum in Mekka vertretene Christentum werden in dieser Phase umworben, um die Anhänger des falschen Glaubens zu bekehren. Hier haben die redundanten Neuerzählungen jüdischer Theologie im Koran ihren Ursprung.
Das Exil im Umland Medinas stellt die ohnehin aus ärmeren Schichten rekrutierte Sekte vor wirtschaftliche Schwierigkeiten. Mohammed geht zur Raubökonomie über. Hier könnte man von einer ursprünglichen Akkumulation des Islam sprechen, die sich zunächst mit Überfällen auf Karawanen und dann durch die Ausraubung, Versklavung und Auslöschung der jüdischen Stämme Banu Nadir, Banu Qaynuqa und Banu Quraysh vollzieht. Um diese Gewalt zu legitimieren, ändert der selbsternannte Prophet seine Gesetze. Er »empfängt« neue Suren, die Krieg und Gehorsam befehlen und Juden als Verschwörer verunglimpfen. Abdel-Samad liefert umfangreiches Material, um die Entwicklung von einer poetischen, integrativen, werbenden Phase zu jener des »totalen Krieges« nachzuzeichnen. Insbesondere in der zuletzt »empfangenen« neunten Sure sieht er das Vermächtnis »Allahs«: eine Aufforderung zum Bruch des Bündnisses mit Christen und Juden und zum permanenten Jihad gegen Ungläubige.

Warum kooperieren Universitäten lieber mit der Ditib oder Muslimbruderschaften, als Abdel-Samad auf ihre Podien einzuladen? Schließlich ist er es, der für die freie Gesellschaft buchstäblich den Kopf hinhält.

Ohne Umschweife geht Abdel-Samad auf die Probleme des Korans ein: Gewalt, religiöse Intoleranz gegenüber Juden, Christen, Frauen und Homosexuellen. Er räumt mit den gröbsten Mythen auf, die die Religionskritik erschweren. Den Hauptunterschied des Korans zu den Schriften anderer Religionen findet Abdel-Samad im Literalismus, also der verpflichtenden Treue zum Text. Der Koran behauptet von sich selbst, ein »ewiges Buch« zu sein, dessen Inhalt unabänderlich und wahr sei. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Prinzip der »Abrogation« zu. Darunter versteht die islamische Rechtswissenschaft die Aufhebung einer normativen Bestimmung des Korans oder der Sunna durch eine andere, zeitlich nachfolgende Bestimmung aus Koran oder Sunna. Es gelte also im Zweifelsfall die Aussage der chronologisch nachfolgenden Sure. Liest man den Koran nach diesem – unter Islamgelehrten durchaus umstrittenen – Abrogationsprinzip, kommt man, so argumentiert Abdel-Samad, am Ende der Lektüre zu den jihadistischen Geboten – und nicht zu einer echten Reform.
Dass Abdel-Samad den Koran häufig mit einem »Supermarkt« vergleicht, in dem sich jeder bedienen könne, steht dazu eigentlich im Widerspruch. Es bezieht sich aber auf die Praxis der liberalen Religionsausübung. Diese Leute möchte Abdel-Samad nicht beschämen und zeigt sich ganz den traditionellen Höflichkeitsregeln verpflichtet. Man lässt den anderen nicht nackt dastehen, auch wenn er keine Kleider trägt. Sein gesamtes Material aber widerspricht der These vom Supermarkt: Der Koran läuft auf den Jihadismus hinaus, er kann nicht anders, weil er nach den Launen des Religionsgründers und späteren Kriegsfürsten Mohammed entstanden ist.
Abdel-Samad analysiert das Menschenbild im Koran sehr luzide und legt damit dessen theologisches Determinismusdilemma bloß: Allah erschafft den Menschen ohne freien Willen, er schafft ungläubige und gläubige Menschen, um dann die Ungläubigen leiden zu lassen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Behauptung des Islamwissenschafters Mouhanad Khorchide fragwürdig, wonach Allah ein barmherziger Gott sei. Das kann nur behaupten, wer den Koran auf die Basmala, die gleichbleibende Einleitung der Suren (»Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes«) reduziert und 80 Prozent der Suren überliest, in denen Höllendrohungen den einzigen Grund zum Glauben liefern. Abdel-Samad weist Mohammed pathologische Bestrafungsphantasien nach: »Der Prophet projiziert seine Wut und Rachegelüste auf Gott und lässt den Allmächtigen damit auf das Niveau der Menschen sinken.« Die Barmherzigkeit ist für die wenigen wahren Gläubigen reserviert, nicht für die Sünder. Sie äußert sich nicht nur im Paradies, sondern auch darin, dass Allah die Ungläubigen im Diesseits wie im Jenseits leiden lässt: »Allah wird beschrieben als ein Gott, der sich offenbar bewusst dazu entschieden hat, so viele Menschen wie möglich in der Hölle schmoren zu lassen.« Mit seinen Verweisen auf die wenigen spirituellen Passagen und die Poesie versucht Adel-Samad seinen Lesern dann aber doch einen ehrenvollen Ausweg aus dem dogmatischen Dilemma des Korans aufzuzeigen.
Entscheidend ist, dass der Autor den Koran nicht als das »andere«, »Kulturfremde« kritisiert, sondern aus der Position eines ehemaligen Muslims spricht, der zuallererst andere Muslime über »ihr« Buch aufklären will. Und auch wenn Abdel-Samad bei der AfD oder vor Burschenschaften referiert und neuerdings deren Positionen auch aufnimmt, findet sich in diesem Buch nichts Zynisches oder Menschenfeindliches. Warum aber kooperieren Universitäten lieber mit der Ditib oder Muslimbruderschaften, als Abdel-Samad auf ihre Podien einzuladen? Schließlich ist er es, der für die freie Gesellschaft buchstäblich den Kopf hinhält.

Hamed Abdel-Samad: Der Koran. ­Botschaft der Liebe, Botschaft des Hasses. ­Droemer-Verlag, München 2016, ­240 Seiten, Euro 19,99