über den Selbstmordattentat

Role Models für den Jihad

Der nicht allzu lange Weg vom anti­imperialistischen Kampf zum islamistischen Terror: Wie Selbstmord­anschläge zum Markenzeichen des Islamismus wurden.

30. Mai 1972: Das Inferno in der ­Ankunftshalle des Flughafens im ­israelischen Lod begann vollkommen überraschend. Drei Japaner, zwei Männer und eine Frau, öffneten ihre Koffer, holten Maschinenge­wehre hervor und schossen wahllos alle Menschen nieder, die in ihrer Reichweite waren. 26 Menschen starben, acht von ihnen waren Israelis und 17 christliche Pilger aus Puerto Rico. Die eintreffenden Sicherheitskräfte erschossen die Attentäterin Yasuiki Yasuda. Ihr Genosse Takeshi Okudaira tötete sich mit einer Handgranate selbst. Der auf das Rollfeld geflüchtete 24jährige Kozo Okamoto wollte ebenfalls mit einer Handgranate ein Flugzeug und sich selbst in die Luft jagen. Israelische Polizisten vereitelten dies und nahmen ihn fest – sehr zu seinem Bedauern, denn er wäre lieber gestorben.
Der Anschlag von Lod war das ­erste Attentat im Nahen Osten und des modernen Terrorismus überhaupt, das gezielt als Selbstmordanschlag geplant war. Verübt wurde es von drei Angehörigen der Japanischen Roten Armee, die ähnlich wie die RAF ein militanter Ableger der Achtundsechziger-Bewegung war. Sie hatten sich dem antiimperialistischen Kampf verschrieben, zunächst gegen den Vietnamkrieg und die USA, dann gegen Israel. Ihre aktivistische Parteinahme für die Palästinenser ließ sie Kontakt aufnehmen zur Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP), eine jener marxistisch-leninistisch geprägten Gruppen, die mit Anschlägen und Flugzeugentführungen einen unerbittlichen Krieg gegen die »Zionisten« führten.
Auch wenn der Anschlag in Lod von Japanern ausgeführt wurde, die in ihrem Herkunftsland mit der ­Verherrlichung von Kamikazeangriffen sozialisiert worden waren und die nicht davor zurückschreckten, ihr eigenes Leben für das große Ziel der Weltrevolution zu opfern, so lag die konkrete Planung beim PFLP-Führer Wadi Haddad. Er war jener professionelle Drahtzieher des palästinensischen Terrorismus, der fünf Jahre später für die RAF die Entführung des Lufthansa-Jets »Landshut« organisierte. Vor dem Anschlag von Lod hatten palästinensische Gruppen bereits heftige Gewalt angewendet, aber niemals bewusst den Tod ihrer Fedayin einkalkuliert. Das Angebot der Japanischen Roten Armee kam da gerade recht, um eine neue Eskalationsstufe im Krieg mit Israel zu erreichen.
Nicht zuletzt aufgrund des Suizidverbots im Islam wäre durchaus vorstellbar gewesen, dass die große Mehrheit der Palästinenser und der Araber den Anschlag von Lod ver­urteilt hätte. Doch die drei Attentäter wurden in weiten Teilen der arabischen Welt umgehend als Helden gefeiert: Sie hätten ein loderndes Zeichen gegen das Unrecht der israelischen Besetzung gesetzt und ihr Leben für eine Sache geopfert, die nicht direkt ihre eigene war. Die Konterfeis der drei Attentäter prangten auf Tausenden Ruhmesplakaten.
Im Rahmen eines Gefangenen­austausches ließ Israel Okamoto nach 13 Jahren Haft frei. Er tauchte zunächst in Libyen unter, um dann 1997 von der libanesischen Regierung ­politisches Asyl zu bekommen. Bis heute lebt Okamoto trotz eines japanischen Auslieferungsersuchens ­unbehelligt in einem Vorort Beiruts. Wie einige andere Antiimperialisten aus dem globalen Norden ist auch er zum Islam konvertiert. Auf der Straße wird er von Passanten freundlich gegrüßt, im Wissen, wer er ist. Insbesondere Palästinenser verehren ihn als Helden, wie beispielsweise in Rabih El-Amines Dokumentarfilm »Ahmad the Japanese« zu sehen ist. Im Mai 2016 postete die palästinensische Fatah auf ihrer ­Facebookseite anlässlich des Jahrestages des Attentats von Lod: »Tausend Grüße an den japanischen Kämpfer und Genossen Kozo Okamoto, den Helden der Operation am Flughafen von Lod.« Der Medienbeauftragte der Fatah, Munir Jaghob, schrieb: »Wir sind stolz auf all die Leute, die für die palästinensische Sache arbeiten.«
Langjährig eingeübt
Der Selbstmordanschlag von Lod war die Initialzündung dafür, dass diese Form der entgrenzten politischen Gewalt im Laufe der vergangenen 44 Jahre zum Markenzeichen des Jihadismus wurde. Vieles von den Aktionsformen, ideologischen Argumentationsfiguren und medialen Selbstdarstellungen, die heute die Selbstmordanschläge des Islamischen Staates und anderer Jihadisten ausmachen, ist bereits in früheren Jahrzehnten von säkularen wie auch islamistischen terroristischen Gruppen vorweggenommen und eingeübt worden. Der »Islamische Staat« (IS) kann sich somit zu Recht auf eine lange Tradition des Selbstmordattentats im Kampf gegen die »Feinde der muslimischen Welt« berufen – weshalb eine historische Spurensuche erhellend ist.
Nach dem Dammbruch von Lod verübten in den siebziger Jahren mehrere palästinensische Gruppen aus eigenen Kräften blutige Anschläge, bei denen der Tod der Attentäter von vornherein zumindest einkalkuliert, wenn nicht sogar explizit geplant war. Für die PFLP-GC (Popular Front for the Liberation of Palestine – General Command, eine Abspaltung der PFLP) richteten im April 1974 drei Männer ein Blutbad an, bei dem sie wahllos ZivilistInnen im israelischen Ort Kiryat Shmona niederschossen, bevor sie selbst durch den mitgebrachten Sprengstoff starben. Der Chef der PFLP-GC, Ahmed Jibril, rühmte sich damit, dies sei der erste von Palästinensern verübte Selbstmordanschlag gewesen. Im Juni 1974 verübte ein Kommando der PFLP-GC im Kibbuz Shamir ein Selbstmord­attentat.
Die konkurrierende marxistisch-leninistische DFLP (Democratic Front for the Liberation of Palestine) ließ im Mai 1974 in Ma‘alot drei Attentäter eine ganze Schulklasse in ihre Gewalt bringen, bevor sie sich selbst und einige Geiseln töteten. Hintergrund der Strategie, sich gegenseitig übertrumpfen zu wollen, waren die Rivalitäten zwischen diesen Gruppen, die sich trotz oder gerade wegen ihres ähnlichen antiisraelischen Programmes umso rigider voneinander abgrenzen wollten. Der Anspruch, die einzigen rechtmäßigen Kämpfer für die palästinensische Sache zu sein, setzte eine Eskalationsdynamik in Gang, die in ähnlicher Form heute bei konkurrierenden jihadistischen Gruppen im Irak und in Syrien zu beobachten ist.
Ein weiteres Moment beim Wettstreit palästinensischer Gruppen um das opferreichste Selbstmordattentat war, die Schmähkritik des libyschen Staatspräsidenten Muammar al-Gaddafi Lügen zu strafen. Er hatte anlässlich des Attentats von Lod mehr Mut und Aufopferungsgeist von den Palästinensern gefordert und ihnen vorgeworfen: »Man sieht sie alle Bücher schreiben und Zeitschriften mit ihren Theorien füllen, ansonsten aber sind sie nicht imstande, auch nur eine tollkühne Operation wie die der Japaner auszuführen.«
Märtyrertod im Heiligen Krieg
Eine wichtige Grundlage der palästinensischen Selbstmordattentate war jener Märtyrerkult, der sich schon lange vor den Anschlägen der Siebziger herausgebildet hatte. Ein Schlüsselereignis für die Aneignung des Selbstmordattentats im Kontext des Nahostkonflikts war die Beisetzung des palästinensisch-nationalistischen Islamisten und Jihadisten Izz ad-Din al-Qassam im Jahr 1935. Sein Wahlspruch beim Kampf gegen britische Mandatregierung und jüdische Siedler hatte gelautet: »Dies ist der heilige Krieg. Entweder Sieg oder Märtyrertod.« Nicht von ungefähr ist der militärische Arm der Hamas, der auch Selbstmordattentate ausführt, nach ihm benannt, ebenso wie die seit 2001 immer wieder gegen Israel abgefeuerten Qassam-Bodenraketen. Unter Rekurs auf al-Qassams Beerdigung ist es Brauch der Hamas und anderer Jihadisten geworden, die zu Märtyrern gewordenen gefallenen Gotteskrieger in großen Prozessionen zu Grabe zu tragen, die zugleich politische Demonstrationen sind.
Von der Fatah und ihren Untergruppen wurde al-Qassams auf Koranverse aufbauender Aufruf zum Martyrium zunächst auf eine säkulare Ebene gehoben. Benutzt wurde dazu Begriffe wie »Revolutionär« oder »Fedayin« (arab: der sich Opfernde), religöse Termini wie »Shahid« (Märtyrer) und »Istishad« (Märtyrertod) wurden jedoch beibehalten. Die Fatah schrieb es sich auf die Fahnen, die palästinensische Jugend zu Märtyrern für die palästinensische Sache zu erziehen. Palästina sei ein heiliges Land und die Palästinenser seien ein heiliges Volk, die einen heiligen Krieg führten, wurde in den von der Fatah kontrollierten Schulen der Flüchtlingslager gelehrt. Insgesamt wurden 14 Trainingslager für Märtyrer eingerichtet, in denen teilweise Kinder ab 9 Jahre ausgebildet wurden. Ihr Einsatz erfolgte ­beispielsweise im Libanonkrieg 1982, wo 12jährige Jungen die israelische Armee mit Panzerfäusten angriffen, nicht selten mit Todesfolge. Die gezielte Indoktrination von Kindern und Jugendlichen, um unter ihnen Märtyrer zu rekrutieren, ist somit nicht erst von den Jihadisten des 21. Jahrhunderts eingesetzt worden.
Eine weitere wichtige Etappe bei der Verbreitung von Selbstmord­attentaten war der Libanon. Zunächst war er Ausgangsbasis für palästinensische Selbstmordattentäter. Im Rahmen des Bürgerkrieges ab 1975 und der israelischen Besatzung (1982–85) wurden Selbstmordanschläge zu »einem regelrechten Kult« (Croitoru), auch wegen innerliba­nesischer Kämpfe um Hegemonie insbesondere zwischen der eng mit Iran verbundenen Hizbollah und prosyrischer Kräfte wie der Amal-Miliz. Da von den Attentätern keine Grenzen zu überwinden waren, konnten die Sprengstoffmengen wesentlich größer sein. Daher wurden nun als Novum erstmals Autobomben eingesetzt. Das erste Selbstmord­attentat der schiitischen Hizbollah wurde am 11. November 1982 vom 15jährigen Ahmad Qusar in Tyros verübt, er riss fast 90 Menschen mit in den Tod. Die iranische Unterstützung der Hizbollah und die Ausbildung der schiitischen Jugend im ­Libanon zu Selbstmordattentätern geschah im Rahmen eines Islami­sierungsplanes, der die 1979 im Iran begonnene Islamische Revolution ­regional ausdehnen sollte.
Das Selbstmordverbot wird umgangen
Die Ideologen des schiitischen Islamismus standen zunächst vor einem großen Problem: Sie mussten den Einsatz von Kindern und Jugendlichen für Selbstmordattentate aus religiöser Sicht rechtfertigen. Das geschah unter Rekurs auf Ayatollah Khomeinis Stellungnahme zum Einsatz von Kindersoldaten im Iran-Irak-Krieg: Für solche Missionen seien unter 20jährige besonders ge­eignet, da sie noch »rein« und nicht von der sündhaften und satanischen Zivilisation des Westens infiziert ­seien.
Ein weiteres Problem bei der theologischen Rechtfertigung war das im Koran explizit festgelegte islamische Selbstmordverbot. Bei Verstößen ­dagegen erwartet die Sünder laut Koransure 4, Vers 30, das Höllenfeuer. In der ersten Phase der schiitischen Selbstmordanschläge gab es noch keine eindeutigen Festlegungen und widersprüchliche Aussagen von Geistlichen wie dem Mentor der Hizbollah, Sayyad Mohammed Hussein Fadlallah. 1976 schuf dieser aber in seinem Buch »Logik der Macht im Islam« die theologischen Grundlagen für Selbstmordattentate: Der Glaube verleihe dem islamischen heiligen Krieger das Sendungsbewusstsein und die moralische Kraft, die ihn zur bedingungslosen Selbstaufopferung, zum Istishad (Märtyrertod) befähige – was wiederum das Tor zum Paradies öffne.
Die Botschaft der in diesem Geiste 1983 und 1984 verübten großen Selbstmordanschläge auf US-amerikanische und israelische Einrichtungen im Libanon war eindeutig: Die Feinde des Islam sind nirgendwo mehr sicher. In einem Bekennerschreiben der Hizbollah-Tarnorganisation »Islamischer Jihad«, in deren Namen die Anschläge geschahen, hieß es: »Wir sind bereit, zweitausend unserer Kämpfer in den Tod zu schicken, um den zionistischen Feind aus unserm Land zu verjagen. Mit unseren Anschlägen werden wir jeden Ort auf dieser Welt erreichen, schon bald werdet ihr eine große Überraschung erleben. Wir sind die Soldaten Allahs und lieben den Tod.« Diese regelrechte Todessehnsucht war flankiert von Jenseitsversprechen. Der von der Amal-milit eingesetzte 17jährige Selbstmordattentäter Bilal Fahs beispielsweise zitierte in seinem Testament die Koran-Sure »Die Sippe Imrans«: »Halte diejenigen, die auf dem Weg Gottes getötet wurden, nicht für tot. Sie sind vielmehr lebendig bei ihrem Herrn, und sie werden versorgt.« All diese Motive finden sich auch in den Vermächtnissen heutiger Jihadisten.
Weitere Innovationen geschahen durch ein Selbstmordattentat am 9. April 1985 gegen einen israelischen Militärkonvoi, das von der säkularen pansyrischen Partei SSNP organisiert worden war. Bei ihm kam die erste weibliche Todesfahrerin zum Einsatz, die 17jährige Sanaa Muhaidli. Ihr auf Video aufgezeichnetes Vermächtnis wurde noch am Abend des Anschlags im libanesischen und syrischen Fernsehen ausgestrahlt. Als sie darin ihre Motivation zum Selbstmordattentat beschrieb, benutzte sie zwar hauptsächlich säkulares Vokabular, das aber durchdrängt war vom islamischen Jenseitsglauben und schiitischem Märtyrerkult. Sie wurde im Libanon zur Volksheldin, das ­Video war eine begehrte Ware, ihr Gesicht prangte auf tausenden Plakaten. Mit dem Video und seiner großen medialen Verbreitung war ein bis heute gültiges Muster der (Selbst-)Inszenierung von Selbstmordattentaten etabliert.
Lob für Muhaidli gab es vom syrischen Staatspräsidenten Hafiz al-­Assad, der dem »Geist des Martyriums« große Wichtigkeit bescheinigte, sowie vom Generalsekretär der Arabischen Liga, Chedli Klibli: Ihr »Märtyrertod« habe der »arabischen Nation zur Ehre gereicht«. Auf Muhaidlis Anschlag folgte ein Wettstreit prosyrischer Gruppen um die meisten und opferreichsten Selbstmordattentate. Daran beteiligt waren auch die libanesische Kommunistische Partei und die libanesische Baath-Partei.
Der berühmteste Selbstmordattentäter der Welt
Nach einer Pause seit Mitte der 1980er Jahre wurde die Hizbollah ab Ende der achtziger Jahre zu einer »wahren Märtyrer-Fabrik« (Croitoru), der Nachschub an Attentätern versiegte nie. Wichtige Momente ­dabei waren propagandistische Maßnahmen wie jene, Selbstmordattentate so zu terminieren, dass sie als Höhepunkte des schiitischen Ashura-Festes inszeniert werden konnten. Im Hizbollah-Organ Al-Ahd erschienen dutzende Gedenkartikel über Märtyrer, es wurden Märtyrertage und -wochen veranstaltet und Märtyrerdenkmäler errichtet.
Ein erneuter Höhepunkt wurde am 25. April 1995 erreicht, als Salah Ghandur, ein Vater mehrerer Kleinkinder, sich mit einer Autobombe in die Luft sprengte. Das Abschieds­video beschränkte sich nicht auf das Verlesen des Vermächtnisses, sondern dokumentierte mehrere Stationen des Tathergangs. Erster Schauplatz war das Büro des Hizbollah-Generalsekretärs Hassan Nasrallah, der den Märtyrer segnete. Der Attentäter wurde noch während der Fahrt zum Anschlagsziel interviewt. Schluss- und Höhepunkt des Videos ist die aus einiger Entfernung gefilmte Detonation. Durch diese spektakuläre Inszenierung wurde Ghandur über Jahrzehnte zum bekanntesten Selbstmordattentäter der Welt, kein Fernsehbericht über die Hizbollah kam fortan ohne Ausschnitte aus diesem Propagandavideo aus. Ghandur wurde damit zu einem Role Model, dem bis heute tausende junge ­Jihadisten nacheifern.
Nach dem Rückzug Israels aus der Sicherheitszone im Libanon im Jahr 2000 stellte die Hizbollah ihre Selbstmordanschläge ein. Sie betrachtete den Rückzug als einen Sieg, der wesentlich durch die Selbst­mord­attentate erzielt werden konnte. Die Gotteskrieger galten als »Musterbeispiel für die Aufopferungsbereitschaft«, die sie auch für die Sache Palästinas erbracht hätten. Diese Botschaft kam bei der weltweit immer größer werdenden Szene der Jihadisten an.
Nach einer rund 15jährigen Pause begannen palästinensische Kräfte Anfang der 1990er, eine großangelegte zweite Welle der Selbstmordanschläge einzuleiten. Neu war daran die explizite Islamisierung des »Widerstandes« gegen Israel, der bis dato stärker befreiungsnationalistisch und antiimperialistisch codiert war. Der Niedergang des Realsozialismus und die Renaissance des Religiösen in der Politik führten auch bei den Palästinensern zu einer Um­orientierung. Flankiert war dies von einem spezifischen islamistischen Antisemitismus, wie er etwa in der Charta der Hamas formuliert ist.
Brandbeschleuniger bei der zweiten Welle der Selbstmordanschläge war einmal mehr die PFLP-GC von Ahmed Jibril, die jeglichen Versuch einer friedlichen Einigung mit Israel – wie etwa die Osloer Verträge von 1994 – konsequent sabotierte. Es brauchte auch im Falle des palästinensischen Jihadismus einen organisatorischen Kristallisationskern, der unheilvolle Entwicklungen in Gang setzte. (Für den globalen Jihadismus übernahmen diese Rolle in den nuller Jahren al-Qaida und seit 2011 der IS.)
Die PFLP-GC verbündete sich mit allen Kräften, die Israel ebenfalls von der Landkarte tilgen wollten. Dazu zählten nun vor allem palästinensische Islamisten, insbesondere die Hamas und der Islamische Jihad. Die Ursprünge des palästinensischen Islamismus liegen bereits in der dreißiger Jahren, doch spielte er lange Zeit aufgrund enger Überwachung durch die arabisch-nationalistischen Staaten Ägypten und Jordanien keine große Rolle. Nach ihrer Gründung 1987 im Rahmen der Ersten Intifada wuchs insbesondere die Hamas schnell zu einem Machtfaktor, der vor allem im Gazastreifen das gesamte gesellschaftliche und poli­tische Leben dominierte. Auf die Unterzeichnung der Osloer Erklärung im September 1993 folgte eine Terror­welle von Hamas und Islamischem Jihad gegen Israel samt ­zahlreicher (versuchter) Selbstmordanschläge.
Die von punktueller Kooperation durchzogene Konkurrenz der beiden Gruppen führte zu einem regelrechten Wettstreit bei der Verübung von Selbstmordanschlägen. Diese richteten sich nun vermehrt gegen die israelische Zivilbevölkerung, etwa gegen Businsassen und Fußgänger. Verübt wurden sie bevorzugt in zeitlicher Nähe zu israelischen Gedenktagen, insbesondere dem nationalen Gedenktag für den Holocaust. Hierbei ging es nicht nur um maximale Aufmerksamkeit der internationalen Medien, sondern auch um psycho­logische Kriegsführung gegen die ­Israelis. Der Plan von Hamas und ­Islamischem Jihad, mit Selbstmordanschlägen die jüdischen Existenzängste zu verstärken, schien aufzugehen. Allein von 1994 bis zum Ausbruch der so genannten al-Aqsa-­Intifada im September 2000 verübten palästinensische Islamisten 26 Selbstmordanschläge; zumeist als Einzeltäter. 163 Israelis kamen dabei ums Leben, 1 015 wurden verletzt. Das Ziel, den Friedenprozess zu unterminieren, wurde erreicht. Auf die Anschläge folgten harsche israelische Reaktionen und heftige innerpalästinenische Auseinandersetzungen, die später im Gazastreifen zum blutigen Krieg der Hamas gegen Kräfte der Fatah führten.
Indoktrinierung in Moscheen
Die Indoktrinierung potentieller ­Jihadisten durch palästinensische Islamisten geschah hauptsächlich in den Moscheen. Zuerst wurden all­gemeine Vorträge über den Islam gehalten, dann über das islamische Martyrium. Als geeignet erscheinende Kandidaten wurden »auserwählt« und besonderen Härtetests unterzogen. Dazu zählte lebendig begraben zu werden, was unter Rekurs auf islamische Überlieferungen von gefürchteten Grabesengeln und Paradiesversprechungen geschah. Die so Gestählten mussten sich dann in ­völliger Isolation in den Koran vertiefen. Wer alle Befragungen, Prüfungen und die technische Ausbildung im Umgang mit Bomben überstanden hatte, war fortan ein »lebender Märtyrer« (al-Shahid al-hai). Von ihm wurden Abschiedsfotos und Videos angefertigt und er verfasste ein Vermächtnis. Über seinen Einsatzort und –zeitpunkt entschied die Führung der jihadistischen Gruppen.
Die Radikalisierungsstrategie von Hamas und anderen Gruppierungen ging auf. Die palästinensische Öffentlichkeit duldete die Selbstmordattentate, ja billigte sie sogar mehrheitlich; Kritik wurde nur selten laut. Der Kampf gegen Israel dominierte alles andere. Die Friedensbefürworter gerieten zunehmend in die Defensive und wurden in der immer ex­tremeren Polarisierung zerrieben. Es war durchaus bezeichnend, dass PLO-Führer Yassir Arafat nach seiner Rückkehr aus dem tunesischem Exil 1994 zuallererst in Gaza die Familie des »Märtyrers« Hatem al-Sissi besuchte.
Arafats Fatah war ohnehin an der Verherrlichung von Selbstmord­anschlägen stark beteiligt, die Attentäter waren längst in ihren Pantheon der palästinensischen Märtyrer eingegangen und wurden auch in der Diaspora von islamistischen wie säkularen Fedayin verehrt. Der Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada führte zum Wettstreit der verschiedenen palästinensischen Fraktionen um Märtyrer. Die islamistischen Organisationen betrieben inzwischen einen betont islamischen Märtyrerkult, etwa mittels eigener Zeitschriften. »Märtyrerhochzeiten« für unver­heiratet gestorbene Attentäter etablierten sich, sie waren eine Mischung aus Trauerfeier, Freudenfest und ­politischer Manifestation, bezahlt wurden sie von Gruppen wie dem ­Islamischen Jihad.
Freibrief für die Ermordung Unschuldiger
Ähnlich wie bei den schiitischen ­Organisationen Hizbollah und Amal ging auch bei den sunnitischen islamistischen Palästinensergruppen dem Terror die Zustimmung durch islamische Rechtsgelehrte voraus. Die religiöse Rechtfertigung erfolgte auch in ihrem Falle, etwa durch den ägyptischen Muslimbruder Yussuf al-Qaradawi, ein in der islamischen Welt hoch angesehener Schriftgelehrter. 1997 erschien in Damaskus das Werk »Die Märtyrertod-Opera­tionen aus der Sicht des Religionsgesetzes« des Hamas-Mitgliedes Nawaf Hail al-Takuri. Es avancierte rasch zum Standardwerk islamistischer Gruppen; die Hamas bot es ­auf ihrer Webseite zum Download an. Zwei prominente islamistische Prediger rechtfertigten im Vorwort Selbstmordaktionen: Sie seien keine Selbstmorde, sondern die höchste Stufe der Selbstaufopferung im Rahmen eines legitimen islamischen Selbstverteidigungskrieges. Das Suizidverbot im Islam komme hier nicht zur Geltung, da Selbstmordaktionen nicht aus Lebensmüdigkeit resultierten, sondern ein Akt der Gottesverehrung im heiligen Krieg gegen die Ungläubigen seien.
Der Vorzug von Selbstmordanschlägen liegt laut al-Takuri darin, dass sie den Feind in Panik versetzten – eine Argumentationsfigur, die der syrische Präsident Hafiz al-Assad bereits 1985 in einer Rundfunkansprache zur Lobpreisung von Selbstmordanschlägen verwendet hatte. Die Tötung von Zivilisten sei in vielen Ausnahmefällen gerechtfertigt, etwa bei allen israelischen Frauen mit ­ihrem schädlichen Einfluss auf Muslime (bei letzterer Argumentations­figur bedient sich al-Takuri der antisemitischen Hetzschrift »Die Protokolle der Weisen von Zion«). Kinder dürften nicht direkt angegriffen werden, ihr Tod könne aber als »unerwünschter Nebeneffekt« in Kauf genommen werden. Al-Takuris bis heute von Jihadisten viel rezipiertes Buch lieferte damit einen Freibrief, gänzlich unbeteiligte Menschen zu morden.
Bei der zweiten Intifada ab September 2000, die nach der al-Aqsa-Moschee in Jerusalem benannt war, wurden anders als bei der ersten Intifada flächendeckend schwere Waffen eingesetzt. Selbstmordanschläge wurden zunächst von Hamas, Islamischem Jihad und PFLP verübt, ab 2002 auch von der Fatah, die die ­Hoheit im palästinensischen Kampf gegen Israel beanspruchte. Ihre Selbstmord-Einheit nannte sie »Brigade der al-Aqsa-Märtyrer«, womit schon im Namen alles ehemals Säkulare getilgt war. Verstärkt wurde nun das Internet eingesetzt, um Märtyrern und ihren Taten zu huldigen. Insbesondere Hamas und Islamischer Jihad unterhielten schon frühzeitig aufwendige Webauftritte.
Im Wettstreit der palästinensischen Organisationen kam es zu einem weiteren Novum: Bis dahin hatten Attentäter ihre Pläne gegenüber ihren Familien und ihrem Umfeld verheimlicht. Nun inszenierte die Hamas Videos, in denen zwei Mütter ihre Söhne in ihrem Vorhaben noch bestärkten und andere Mütter aufriefen, es ihnen gleich zu tun. 2002 eröffnete das »Khansa-Institut für Gotteskriegerinnen« ein Chat­forum, auf dem sich Mütter austauschen konnten, wie sie ihre Söhne und teils auch Töchter zur Selbstaufopferung erziehen könnten. Dem gleichen Zweck diente das Internetmagazin Al-Fateh (Der islamische ­Eroberer) der Hamas, das Kindern den Märtyrertod nahe brachte. Herangeführt an Selbstmordaktionen wurden Kinder auch, indem sie Plakate mit Märtyrerporträts flächen­deckend in Gaza anbringen sollten. Kinderspiele mit Bombengürteln und ähnlichen Utensilien waren verbreitet, bei Aufmärschen der Hamas wurden selbst kleine Kinder entsprechend ausstaffiert.
Bei der Bereitschaft zum Märtyrertod spielt der Jenseitsglaube eine ­bedeutende Rolle. Glaube ans ewige Leben im Paradies ist Bestandteil ­aller Bekennervideos und Testamente, er macht die besondere Stärke von Jihadisten aus. Die Furchtlosigkeit vor dem Tod ist eine Wunderwaffe gegen Feinde, die den materiellen Freuden im Diesseits verhaftet und daher von Todesangst beherrscht sind. Die Selbstvernichtung des Selbstmordattentäters ist in ­dieser Sichtweise ein Sieg, ein Gottes­triumph, ein Siegeszug der einzig wahren Religion, die allen anderen Weltordnungen überlegen ist: des ­Islam. Märtyrer sind Identifikationsfiguren, sie transzendieren den (ursprünglich säkularen) Kampf gegen den Feind in einen religiös überhöhten Krieg, der mit den Märtyrern ­zugleich ein menschliches Gesicht bekommt.
Einer Untersuchung der Univer­sität Haifa aus dem Jahr 2002 zufolge hatten mindestens 80 Prozent der palästinensischen Selbstmordattentäter eine religiöse Schule besucht, bei anderen Anschlägen waren es nur 36 Prozent. Die Täter waren meist zwischen 22 und 27 Jahre alt, bis auf 4 Frauen alle männlich und stammten meist aus wirtschaftlich schwachen Ortschaften. Die Mehrzahl hatte Erfahrung als konventionelle Terroristen. Die Autoren der Studie zogen den Schluss, dass Selbstmordanschläge den Tätern als »Gipfel der terroristischen Karriere« ­gelten.
Extremste Form von Gesellschaftsveränderung
Die weitere Geschichte der jihadistischen Selbstmordanschläge seit 2001 ist weitgehend bekannt: Ausgehend vom zunächst regionalen Glaubenskrieg im Libanon und in den palästinensischen Gebieten erfolgte eine Internationalisierung hin zu einem globalen heiligen Krieg ­gegen die »Ungläubigen«. Für eine islamische Weltrevolution zugunsten eines Kalifatsstaates war nur ein weiterer Radikalisierungsschritt ­nötig, Erfahrungen mit Selbstmordanschlägen einschließlich des Einsatzes von Flugzeugen waren reichlich vorhanden. Das al-Qaida-Netzwerk konnte nicht erst beim Angriff auf das World Trade Center auf das Wissen zahlreicher Organisationen zurückgreifen, die den Weg bereitet hatten. Der Kern der Kaderschicht bestand aus ehemaligen Mitgliedern der PFLP-GC, technisches Wissen kam von Imad Maghniyah, einem früheren Militär der Hizbollah und vormaligen Fatah-Terroristen.
Auch der exzessive Einsatz von Selbstmordaktionen durch den IS wäre nicht möglich ohne die langjährig eingeübte Praxis vorangegangener Jihadisten, was sich sowohl bei der Rekrutierung von Attentätern als auch in der Akzeptanz in Teilen der muslimischen Öffentlichkeit niederschlägt. Selbstmordaktionen sind im Mittleren Osten und in Nordafrika als weitgehend exklusives Markenzeichen des Jihadismus gut eingeführt. Zu Recht können Jiha­disten sich damit brüsten, weltweit die extremste Form von Gesellschaftsveränderung zu praktizieren. Genau darin dürfte die besondere Faszination für Abertausende Jugendliche und junge Erwachsene liegen, die bereit sind, ihr Leben und das anderer zu opfern zugunsten des einen großen Ziels: der islamischen Weltrevolution, mit der dann alle bisherigen Demütigungen überwunden werden.
Die Geschichte des Selbstmordattentats im Nahen Osten verdeutlicht, dass der Weg von antiimperialistischen und arabisch-nationalistischen Begründungen hin zu islamistischen nicht weit war. Im einen Fall bedeutete das Selbstmordattentat Aufopferung für die Sache des Volkes, des ­sozialistischen Kollektivs oder der arabischen Nation, es war Teil des Kampfes gegen den zionistischen und imperialistischen Feind. Im anderen Fall wurden Selbstmordanschläge im Rahmen eines Jihads gegen Zionisten, Kreuzritter und Ungläubige verübt, zu Gunsten der Umma, der Glaubensgemeinschaft der Muslime. In beiden Fällen zählen das Individuum und sein Leben wenig, die Gemeinschaft und der Tod umso mehr.
Auf dem Weg vom Antiimperialismus zum Jihadismus bedurfte es ­keiner Veränderung der argumentativen Grundstruktur, sondern nur des Austauschs von einzelnen weltanschaulichen Bezügen, Glaubensätzen und Begründungen. Selbstmordanschläge gelten beiden als gerechter Krieg gegen westliche Usurpatoren und deren Kollaborateure, in dem fast alle Mittel gerechtfertigt sind. Es verwundert daher nicht, dass zahlreiche Protagonisten und Organisationen, die sich in den siebziger Jahren dem Zeitgeist entsprechend eines säkularen und antiimperialistischen Vokabulars bemächtigten, ab den achtziger Jahren zu islamischen Glaubenskriegern konvertierten. Die ­Geschichte des japanischen Rotarmisten Okamoto ist so gesehen kein ­absurder Einzelfall, sondern prototypisch.

Christian Stock ist Redakteur der Zeitschrift iz3w. Der Text ist die Langfassung eines ­Artikels für den Themenschwerpunkt »Dschihadismus«, der am 15. Dezember in der iz3w Nr. 358 (Januar/Februar 2017) ­erscheint. www.iz3w.org

Literatur:
Mia Bloom: Dying to Kill. The Allure of ­Suicide Terror. New York 2005
Joseph Croitoru: Der Märtyrer als Waffe. Die historischen Wurzeln des Selbstmordattentats. München/Wien 2015
ders.: Hamas. Der islamische Kampf um Palästina. München 2007
Matthias Küntzel: Djihad und Judenhass. Über den neuen antijüdischen Krieg. ­Freiburg 2003
Gerhard Scheit: Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt. Freiburg 2003
Michael Sontheimer: Im Zeichen des Orion. In: Tageszeitung, 26.5.2012