das Leben der Schlümpfe

Stolz und Vorteil

Mutmaßungen über die Schlümpfe.

Das Dilemma des bürgerlichen Humanitätspostulats ist bekannt: Es heißt, alle Menschen seien gleich – es heißt aber auch, alle Menschen seien je verschieden! Was die Moderne rechtlich auszugleichen versucht, ist in einer mittelalterlichen Parallelwelt auf simple Art gelöst worden – durch die Überzeichnung in die Extreme. Für Menschen nicht zugänglich, gibt es irgendwo auf dem Gebiet des heutigen Belgiens versteckt einen Wald, in dem anthropomorphe Kleinlinge leben, die in ihrer Gestalt alle absolut identisch sind: kleine blaue Zwergwesen, jedes von ihnen mit weißer Hose und weißer Mütze bekleidet – die Schlümpfe! Ausnahmen sind etwa ein Oberschlumpf mit Rauschebart und roter Hose und roter Mütze sowie Schlumpfine, die einzige Schlumpffrau, mit langen blonden Haaren und adrettem Sommerkleid; in einzelnen Geschichten tauchen überdies beispielsweise ein verärgerter Schwarzschlumpf auf, ein Opa-Schlumpf (in Gelb, mit noch längerem Bart), ein Tarzan-Schlumpf (mit Grünzeug als Kleidung) oder ein goldener Schlumpf. Doch diese Ausnahmen bestätigen die Regel.
Es ist ein komischer Ernstfall des vollendeten Individualismus, denn die ansonsten nicht voneinander zu unterscheidenden Schlümpfe sind dennoch alle verschieden und jeder für sich in seiner Schlumpfexistenz einmalig: Abhängig von der Tätigkeit, die entweder durch eine tätigkeitsspezifische Geste oder einen tätigkeitsspezifischen Gegenstand definiert wird (nicht durch das, was ­tatsächlich getan wird!), hat der Schlumpf seinen Hauptnamen – gelegentlich wird auch vom Markennamen gesprochen –, und dazu noch passend einen zumeist auf »i« endenden Spitznamen: Schlaubi, der Schlumpf mit Brille, der mahnend seinen Zeigefinger hebt; der Dichterschlumpf Poeti, der eine Schreibfeder und einen Bogen Papier mit sich trägt; der auf dem Boden schlafende Schlumpf, der Fauli heißt; Weini, der traurige Schlumpf, mit Taschentuch in der Hand und Tränen im Gesicht; und so weiter. 100 Stück sollen es sein, die im Schlumpfdorf in zu Hütten um- und ausgebauten Riesenpilzen leben, ohne Geld, ohne Religion, ohne Staat, ohne Gesetz.
So sehr ihre Individualität wie die Karikatur fröhlich und frech akzeptierter Verdinglichung erscheint, so lebendig agieren die Schlümpfe zugleich in ihren Rollen: sie sind nämlich auf diese nicht festgelegt; wenn ihnen eine Tätigkeit nicht mehr gefällt, machen sie etwas anderes. Gleichwohl sind sie allerdings Comicfiguren, die nicht nur über Hefte und Filme vermarktet, sondern auch als Plastikspiel- und Sammelfiguren angeboten werden. Da bleibt der Geschenkschlumpf eben der Geschenkschlumpf mit seinem Geschenkpaket in der Hand, so wie der Trompetenschlumpf sein ganzes Schlumpfleben lang trompetet.
Erfunden hat die Schlümpfe, die im Original »les Schtroumpfs« heißen, der 1928 in Brüssel geborene Pierre Culliford, der als Comiczeichner unter dem Künstlernamen Peyo berühmt wird – nämlich, nach ersten Erfolgen mit der Figur des Hotelpagen »Johann« (1946) und den Abenteuergeschichten mit der Katze »Pussy« (1950), mit den Schlümpfen. Sie haben erstmals 1958 einen Gastauftritt in einem von Peyos nunmehr unter dem Namen »Johann und Pfiffikus« (im Original »Johan et Pirlouit«) laufenden Comics. Die Schlümpfe hatten sofort Fans, die mehr haben wollten – jedenfalls gehört das mit zur Entstehungslegende des Markterfolgs der kleinen blauen Figuren. Allein 16 Originalalben sind erschienen, der Trickfilm »Die Schlümpfe und die Zauberflöte«, der 1975 in die Kinos kommt, bringt den endgül­tigen Durchbruch und macht die Schlümpfe zum Welterfolg. Vader Abrahams »Lied der Schlümpfe« ist 1978 auf Platz eins in den Charts, in Amerika wird die Schlumpf-TV-Trickserie von über 200 Stationen ausgestrahlt, mit über einer Million verkauften Exemplaren pro Monat werden die Weichplastikfiguren der Schlümpfe 1983 zum »Spielzeug des Jahres« gekürt.
In Belgiens kulturindustriellem Paralleluniversum ist reichlich Platz, vor allem auf dem Zeichenpapier der Comicproduzenten. Hergés »Tim und Struppi« leben in dieser imaginären Welt (mit Kapitän Haddock, Professor Bienlein und Schulze und Schultze, aber auch mit allen Ressentiments und Regressionen, die aus der realen Welt eingeschleppt wurden). Mit ihrer seit 1983 erscheinenden und mittlerweile in 18 Bänden vorliegenden Comicserie »Die geheimnisvollen Städte« haben François Schuiten und Benoît Peeters einen phantastischen Gegenentwurf zur Erde konstruiert, mit reichlich Steampunk, voller surrealer Details und immer wieder Brüssel. Peyos Schlümpfe allerdings kommen aus einer anderen Ecke dieses Parallel­universums: Hier scheint alles ein wenig kindgerechter, naiver, aber auch humoristischer, zotiger.
Wie so viele Comickünstler hatte auch Peyo seine Inspiration schon früh, als Kind und Jugendlicher, von Mickey Mouse und Donald Duck. Ein weiterer Einfluss soll Tolkiens »Der Herr der Ringe« gewesen sein – wenn man es drauf anlegt, lassen sich hier und da durchaus Gemeinsamkeiten oder Entsprechungen finden, wenn auch alles ein wenig veralbert und verkitscht. Was herauskommt ist eine fröhlich-bunte Welt, die die Tristesse, von der in Belgien ja vielerorts Stadt und Land gleichermaßen geprägt sind, wohltuend konterkariert. Wie in »Der Herr der Ringe« sind auch bei den Schlümpfen die Schemata von Gut und Böse eindeutig und einleuchtend verteilt: die Schlümpfe sind gut, der Zauberer Gargamel ist böse – schließlich hat er es darauf abgesehen, die Schlümpfe zu vernichten. Wichtig ist indes, dass die Schlümpfe die Guten sind.
Dennoch finden sich einige, die das nicht so eindeutig sehen. So kursiert seit einiger Zeit etwa die These, die Schlümpfe seien irgendwie antisemitisch, Nazis, allesamt totalitäre Übertäter. Immerhin: die Katze des Zauberers Gargamel heißt Azrael, und das ist nach religiöser Tradition der Name des Todesengels; sowieso klingt Azrael nach Israel. Überdies könnte die weiße Kleidung der Schlümpfe ein Hinweis auf den Ku Klux Klan sein – deren Anführer wie Papa Schlumpf rot gekleidet sind! Ausgerechnet ein Konservativer will diesen Verdacht soziologisch bestätigt haben: Die blonde Schlumpfine repräsentiere das arische Ideal der Weiblichkeit, die große Nase des bösen Zauberers karikiere ihn als stereotypen Juden; der Kollektivismus der Schlümpfe entspräche der faschistischen Volksgemeinschaft, aber irgendwie auch dem Stalinismus, Papa Schlumpf erschiene dann als Stalin höchstpersönlich. Peyo selbst sei unverdächtig, so die These des französischen Populärsoziologen Antoine Buéno, hätte diese Schematismen unbewusst in die Schlumpfwelt reingebracht.
Weniger Aufsehen gibt es indes um den niederländischen Sänger Pierre Kartner, der als Vader Abraham 1978 mit dem »Lied der Schlümpfe« weltberühmt wurde. Die Kunstfigur Vader Abraham ist explizit, inklusive der Verkleidung mit Hut und Bart, an den biblischen Abraham angelehnt, Kartner selbst kokettierte mit nationalkonservativen Positionen, nahm etwa mit dem 2002 ermordeten Rechtspopulisten Pym Fortuyn dessen Wahlwerbe-Song »Wimmetje gaat, Pimmetje komt« auf.
Die Aufklärung der faschistischen Tendenzen in Schlumpfhausen steht auf der Agenda der Emanzipation von Elend und Doofheit allerdings angesichts der realen Weltlage erst einmal ganz unten. Ach, wenn doch alle Nazis Schlümpfe wären und sich die antisemitischen Affronts auf die Darstellung böser Zauberer und ihrer Haustiere beschränkten: um die Menschheit wäre es besser bestellt! Und um Belgien auch.