Musiker drängen ans Theater

Die Musik wird fehlen

Immer mehr Musiker tauschen den Tourbus gegen ein Engagement am Theater. So nachvollziehbar das Verlangen nach besseren Arbeitsbedingungen und neuen Tätigkeitsbereichen ist, auf dem Weg geht doch etwas verloren.

Es waren einmal Independent-Musiker. Sie stellten etwas mit Sprache an und rissen ihr großes Maul auf. Über die persönlichsten Angelegenheiten konnten sie reden, als handele es sich um Weltpolitik, die Lieder dienten dazu, ihren Äußerungen Nachdruck zu verleihen. Damit konnten sie bis ins 21. Jahrhundert hinein bei vielen jungen Menschen eine Menge Enthusiasmus und sogar Widerstandskräfte wecken. Doch in den vergangenen Jahren hat sich manches für die Indie-Musiker in Deutschland verändert. Nicht selten sind sie von der gleichen Aura umgeben wie Kandidaten von »Deutschland sucht den Superstar« – nach Ablauf der jeweiligen Staffel. Sie sind weiterhin irgendwie medial präsent, doch weiß niemand so recht, was man mit ihnen anstellen soll. Weil Indie-Musikern obendrein der Ruf anhaftet, mehr oder weniger akustisches Freibier feilzubieten, leuchtet kaum jemandem ein, für ihre Kunst zu bezahlen.
Aus solchen Gründen haben sich Indie-Musiker wie Anton Spielman von der Band 1 000 Robota, Peter Thiessen von Kante, Schorsch Kamerun von den Goldenen Zitronen und etliche andere nach neuen Verdienstmöglichkeiten umgesehen. Ihre Suche war erfolgreich, im Theater haben sie einen Platz gefunden, an dem man sie gebrauchen kann. Immer öfter verlegen sie deshalb ihren beruflichen Mittelpunkt in eines der bekannten Häuser in Hamburg oder Berlin, Köln oder München, Wien oder Zürich. Die Intendanten, Dramaturgen und Regisseure haben längst ihr Herz für Indie-Musiker entdeckt und können sie »abholen«, wie es sonst Politiker mit ihren Wählern tun: »Geschätzte Musiker, der Theatermusikerjob, den wir euch bieten, ist das gut dotierte Ende eurer ganz persönlichen Fahnenstange.«
Die Indie-Musiker aber hören nicht unbedingt den ganzen Satz, sondern nur einen Teil davon. Vielleicht nehmen sie gerade mal zwei Wörter zur Kenntnis: »Gut dotiert.« Verständlicherweise freuen sie sich anschließend über die Aussicht, in Lohn und Brot zu stehen. Die Verantwortlichen am Theater wiederum macht das glücklich, weil sie durch die Beschäftigung von Subkulturschaffenden beweisen können, dass sie über den Tellerrand schauen. Es haben also alle etwas davon, wenn Indie-Musiker ans Theater gehen. Und auf den ersten Blick sieht es nicht einmal so aus, als müssten sich die Musiker allzusehr umstellen. Denn auch in einem Theater betreten Indie-Musiker eine Bühne und bedienen Musikinstrumente vor einem Publikum. Mit dem Unterschied, dass sie nun die musikalische Tapete des Bühnenraums liefern. Sie machen Hintergrundgeräusche und treten nicht mehr in eigener Sache auf.
Und das lässt sich nach ein paar Jahren, in denen auch der Autor dieser Zeilen hier und da im Rahmen eines Theaterstücks eine Gitarre gehalten oder gesungen hat, drastischer ausdrücken: Indie-Musiker, die ans Theater gehen, treten gar nicht mehr auf, selbst wenn sie Abend für Abend Vorstellung haben.
Die Folgen, die dieser Vorgang nach sich zieht, sind dramatisch: Die Musik, die womöglich in den betreffenden Musikern steckt, wird nicht mehr geschrieben. Die Platten, die sie noch veröffentlichen könnten, werden sie nicht mehr aufnehmen. Sie hören auf, aufzufallen. Sie werden freiwillig kleinlaut. Sie lernen, ihre persönlichen Eigenschaften pragmatisch zu behandeln. Das gilt auch für das erwähnte große Maul: Im Theater lernen Indie-Musiker, es zu halten. Mit ihrer Kunst passiert hier im Prinzip dasselbe wie mit Patienten im Krankenhaus: Sie wird ruhiggestellt. Wobei das Theater für diese Ruhigstellung ganz ohne Valium-Tablette oder einen Becher Rohypnol auskommt.
Ohne Häme sei angemerkt, dass sich die Bereitschaft von Musikern, sich derart künstlerisch zurückzuhalten, aus nachvollziehbaren Gründen entwickelt. Früher bezahlten sie ihren Proberaum selbst. Für Konzerte nahmen sie die Anstrengung auf sich, Tag für Tag in eine andere Stadt zu reisen. Die Kosten für Tourbusmiete und -benzin sowie Kilometerpauschalen fraßen ihre Gagen auf. Etliche Male verdienten sie kein Geld, sondern mussten stattdessen welches mitbringen, um überhaupt spielen zu dürfen.
Am Theater läuft alles leichter. Hier werden nicht nur Aufführungen, sondern häufig schon die Proben bezahlt. Zur Arbeit fahren Theatermusiker immer an denselben Ort, weshalb sie keinen Tourbus mehr brauchen. Viele Kosten entfallen, gleichzeitig verdienen sie deutlich besser als früher. Damals hyperventilierten sie aus Freude über ihre verstiegenen musikalischen Ideen, die Flausen in den Künstlerköpfen ließen manche ganz wuschig werden. Heute, am Theater, sind diese stressigen Zeiten für sie vorbei. Mögen sie die Freuden und Flausen auch vermissen, den uneinladenden Proberäumen, endlosen Autobahnfahrten, der Verstärkerschlepperei, den deprimierenden Backstage-Räumen und einem Publikum, das entweder nicht erscheint oder, wenn doch, kaum Interesse zeigt, trauern sie nicht hinterher. Indie-Musiker am Theater zeigen sich froh und erleichtert, dass dieses entsetzliche, sogenannte Musiker-Leben endlich hinter ihnen liegt.
Womöglich können die besagten Musiker noch einen weiteren Grund nennen, warum sie sich am Theater verdingen. Sie finden ihn, sobald sie im Fernsehen eine dieser Sendungen anschauen, in welchen ein Mensch vor eine Kamera tritt, um einem anderen Menschen dabei zu helfen, seinen Hund zu rufen, seine Wohnung aufzuräumen, sie einzurichten, aus seinen Schulden rauszukommen, eine Ehefrau zu finden, seine Kinder zu erziehen, auszuwandern, zurückzuwandern oder ein von ihm eröffnetes Restaurant in die Gewinnzone zu führen. Das Fernsehen behauptet, dass Leute, egal, was sie vorhaben, nicht mehr ohne das Fernsehen klarkommen. Nun, auch Indie-Musiker möchten klarkommen. Da das Fernsehen derzeit aber außer für den Liedersänger Olli Schulz und den Rapper Dendemann noch keine regelmäßigen Beschäftigungen für sie einplant, übernehmen die Theater bis auf Weiteres diese Aufgabe.
Die hier beschriebene Entwicklung vollzieht sich dabei nicht zwangsläufig. Die Regisseurin Monika Gintersdorfer etwa demonstriert das in jeder ihrer Inszenierungen. An die mitwirkenden Indie-Musiker, unter ihnen zum Beispiel Hans Unstern oder Kameruns Bandkollege Ted Gaier, stellt Gintersdorfer die unterschiedlichsten Forderungen. Zurückhaltung gehört glücklicherweise nicht dazu.
Ähnliches galt auch für die Inszenierung »Der Eindimensionale Mensch wird 50« nach Texten von Herbert Marcuse. Bevor mich eine Stimmbandentzündung an der Mitwirkung hinderte, konnte ich ein paar Wochen aus nächster Nähe erleben, wie der Musiker Andreas Spechtl zusammen mit dem Schauspieler und Musiker Robert Stadlober und dem Publizisten Thomas Ebermann diese inhaltlich aufgeladene, bravouröse Tour de Force auf die Beine stellte. In ihrem Theaterkonzert, wie sie es nannten, sah vieles anders aus und hörte sich anders an, als es in vielen Stücken üblich ist. Die Musiker spielten Schauspieler. Die Schauspieler traten als Musiker auf. Die einen wie die anderen warfen sich in Sätze, Szenen und Klänge, legten sich Akzente zu und interviewten sich gegenseitig, während sie zwischen Musikinstrumenten hin- und herjagten. Das alles auf der Grundlage eines Buches, das vor 50 Jahren erschienen ist.
Zweifelsohne lässt sich aber für die meisten anderen Indie-Musiker feststellen, dass sie am Theater interessante Erfahrungen sammeln und eine Menge Erleichterungen bekommen können. Am Theater können sie unter den besten Bedingungen an allem und jedem arbeiten. Nur nicht an ihrer Kunst.