Lindsay Cooper und die Avantgarde-Band Henry Cow

Politisch improvisiert

Der Tod Lindsay Coopers vor einem Jahr wurde hierzulande kaum zur Kenntnis genommen. In Großbritannien wird ihr zu Ehren die legendäre Avantgarde-Band Henry Cow noch einmal zusammenkommen.

Als die Fagottistin, Multiinstrumentalistin, Komponistin und linke Feministin Lindsay Cooper am 18. September vergangenen Jahres ihrer langjährigen Erkrankung erlag, wurde dies in den hiesigen Feuilletons nicht einmal registriert. In ihrem Herkunftsland Großbritannien widmeten ihr immerhin Guardian und Independent ausführliche Nachrufe, Ende dieses Jahres werden ihre musikalischen und politischen Weggefährten zwei Gedenkkonzerte geben.
Dabei wird, über 35 Jahre nach ihrer Trennung, auch die legendäre Avantgarde-Rockband Henry Cow noch einmal auftreten, mit der Lindsay Cooper bekannt wurde. Neben Soft Machine in ihrer Frühphase mit Robert Wyatt waren Henry Cow das wohl avancierteste und experimentierfreudigste Ensemble der sogenannten Canterbury-Szene, deren locker verbundene Bands sich meist irgendwo zwischen Progressive Rock und Jazz bewegten (Jungle World 34/2006). Die 1968 gegründete Band, zu deren früher Kernbesetzung der Avantgarde-Gitarrist Fred Frith, Saxophonist Tim Hodgkinson und Schlagzeuger Chris Cutler gehörten, verband Progrock mit Einflüssen aus Neuer Musik, Anleihen bei Brecht, Weill und Eisler, Zappaeskes, Free-Jazz und elektronischen Klangexperimenten zu einer ebenso eigenwilligen wie bis heute herausfordernden musikalischen Neuschöpfung. Henry Cow hatten sich im Zuge des Aufbruchs der Neuen Linken gegründet und verstanden sich zumindest zeitweise als kommunistisches Kollektiv.
Lindsay Cooper stieß 1974 dazu. Sie hatte nach ihrer klassischen Musikausbildung bereits mit der progressiven Folkrock-Band Comus gespielt und war darüber mit der Canterbury-Szene in Kontakt gekommen. Die Multiinstrumentalistin spielte Oboe, Saxophon, Flöte und Klavier – ihr Hauptinstrument aber war das Fagott, mit dem sie zum unverwechselbaren Sound von Henry Cow beitrug. Kompositorisch hatte sie große Bedeutung in der Band, die Hälfte von »Western Culture«, der letzten Platte von Henry Cow, stammt aus ihrer Feder. Die Einführung des Fagotts als Soloinstrument in einen experimentellen Rock- und Jazz-Kontext war bereits an sich bemerkenswert, schließlich gilt das Fagott bis heute als eher unbewegliches Soloinstrument. Cooper spielte es mit elektrischer Verstärkung und Effektgeräten, ähnlich wie Miles Davis es in den siebziger Jahren mit der Trompete getan hatte.
Über das komplizierte Verhältnis zwischen ästhetischer und politischer Praxis bei Henry Cow und über Lindsay Coopers Bedeutung für die Band geben unter anderem die ausführlichen Texte ehemaliger Bandmitglieder im Begleitheft zur 2008 veröffentlichten »Henry Cow 40th Anniversary Box« Auskunft. Gemäß ihrem antihierarchischen Anspruch teilte sich die Gruppe ihre Einkünfte gleichmäßig mit der auf ihren ausgedehnten Touren mitreisenden Entourage. Nach Abzug der Kosten, die nötig waren, um das Equipment inklusive Tourbus funktionsfähig zu halten, blieb für Musiker und Crew allerdings oft wenig bis nichts übrig, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Nachdem musikalische Differenzen zur Beendigung des Vertrags mit Virgin Records geführt hatten – der experimentelle Stil von Henry Cow war dem Management von Virgin nicht einträglich genug –, organisierte und produzierte die Band Konzerte und Platten selbst, um eine zumindest prekäre wirtschaftliche Tragfähigkeit zu ermöglichen. Henry Cow begründeten so das Prinzip der Independent-Vermarktung von Rockgruppen mit und riefen mit »Rock in Opposition« (R.I.O.) ein Netzwerk musikalisch und politisch ähnlich gesinnter Gruppen ins Leben, das mit Unterbrechungen bis heute existiert.
Im Laufe ihrer Karriere verlegten Henry Cow den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten immer mehr von Großbritannien nach Kontinental­europa, wo die Band von der freien Musikszene und ihrem Publikum positiv aufgenommen wurde. Vor allem spielten Henry Cow bei zahlreichen Kulturfestivals mehr oder weniger radikaler linker Parteien in ganz Europa, besonders in Italien. Dort tourten sie nicht nur ausgiebig auf Einladung der PCI-Zeitung L’Unita, sondern spielten auch im Rahmen von Veranstaltungen zahlreicher, untereinander oft verfeindeter linksradikaler Gruppen.
Politisch bewegten sich Henry Cow innerhalb der Ideologien, die die damalige linksradikale Szene bestimmten. Darunter auch der Maoismus, wovon etwa die auf ein bekanntes Mao-Zitat anspielende Cooper-Komposition »Half the Sky« auf »Western Culture« zeugt. Zum linken Selbstverständnis gehörte auch der kollektivistische Anspruch, die eigenen politischen Ansprüche im Alltag zu verwirklichen. Die ehemalige Henry-Cow-Bassistin Georgina Born, heute Hochschullehrerin für Musik, Kultur- und Sozialwissenschaften, schreibt in einem Essay über das Politikverständnis der Band, das Resultat ihres kollektivistischen Anspruchs sei ein »widerborstiges autoritäres Totem oder Denkgebäude« gewesen, das oft wenig Raum für interne Differenzen und Dissens innerhalb der Gruppe gegeben habe. Allerdings habe sich die Gruppe mit ihrem autoritären Kollektivismus und ihrem zumindest teilweisen Scheitern an den eigenen emanzipatorischen Ansprüchen als durchaus typisch für die politisch-kulturelle Linke der siebziger Jahre erwiesen. Das gilt wohl auch für die Gender-Aspekte der politischen und persönlichen Konflikte, die sich innerhalb der Gruppe immer wieder ergaben, deren männliches Kerntrio aus Frith, Cutler und Hodgkinson von Born ironisch als »Zentralkomitee« der Band charakterisiert wird.
Für Lindsay Cooper bedeutete dies, sich nicht nur als erste Frau, sondern als erklärte lesbische Feministin in eine bereits existierende Gruppenstruktur zu begeben, die bis dahin eine reine Männersache gewesen war. Chris Cutler bekennt in seinem Beitrag zum Booklet der »Henry Cow 40th Anniversary Box«, er könne sich bis heute nicht vorstellen, wie das für sie gewesen sein muss. Nach Coopers Eintritt entwickelten sich Henry Cow sukzessive zu einer geschlechterparitätisch besetzten Band, was in der Jazz- und Rockszene bis heute relativ selten ist. Außer Cooper und Born stieß als Ergebnis einer zeitweiligen Verschmelzung von Henry Cow mit dem Trio Slap Happy zeitweise die Sängerin Dagmar Krause zur Band, kurz vor der Auflösung von Henry Cow auch noch die Posaunistin Anne-Marie Roelofs. Lindsay Cooper bezeichnete die Jahre mit Born und Krause ab 1975 einmal als das »Golden Age« von Henry Cow.
Im Gegensatz zu ihrem dem Mainstream der Siebziger-Jahre-Linken verhafteten Politikverständnis setzten Henry Cow musikalisch allerdings ganz andere Maßstäbe. Mit ihren experimentellen Auftritten bildeten sie den denkbar größten Gegensatz zu den Agitprop-Bands und Politbarden, die die Veranstaltungen und Festivals linker Parteien und Organisationen dieser Zeit bevölkerten. Georgina Born beschreibt die kulturell-politische Position von Henry Cow als nicht nur an Brecht, Weill und Eisler orientiert, sondern in musikalischer Hinsicht von einer »materialistischen Ästhetik« im Sinn eines »adornitischen Modernismus« geprägt, was von Chris Cutler bestätigt wird. Born mutmaßt allerdings zu Recht, dass Henry Cow dieses Konzept auf ein musikalisches Feld übertrugen, für das Theodor W. Adorno selbst es niemals geltend gemacht hätte. Tatsächlich hatte sich Adorno sehr kritisch über Versuche geäußert, Popmusik mit politischem Protest oder Gesellschaftskritik zusammenzubringen, was er schon wegen des kulturindustriellen Charakters des Pop als zum Scheitern verurteilt sah. Auf den Avantgardismus von Henry Cow trifft dieses Verdikt allerdings kaum zu. Hier war eine gegenläufige Dialektik am Werk, bei der die aus den Siebziger Jahren stammende linke Ideologie der Gruppe durch eine ästhetische Strategie gebrochen wurde, die die Autonomie des Kunstwerks gegen jede kulturindustrielle Zurichtung wahrte.
Bei der Musik von Henry Cow handelte es sich keineswegs um sauertöpfische Exerzitien eines Haufens notorisch übelgelaunter Kritiker. Die Gruppe zeigte auch musikalisch durchaus Sinn für Komik, vor allem der eher absurden Art – kaum zufällig findet sich im Repertoire von Henry Cow mit »Viva Pa Ubu« auch eine Hommage an Alfred Jarry, einen Wegbereiter des Dadaismus.
Lindsay Cooper war noch Mitglied von Henry Cow, als sie zusammen mit Maggie Nichols, Sally Potter, Irene Schweizer und Georgina Born die »Feminist Improvising Group« (FIG) gründete, die freie Improvisation mit politischer Aktion verband. FIG waren nicht nur eines der ersten ausschließlich weiblichen Musikerkollektive in der männerdominierten freien Jazzszene, sondern thematisierten bei ihren Auftritten weibliche Alltagserfahrungen und die daraus folgende Kritik der Geschlechterverhältnisse ebenso wie weibliche und lesbische Sexualität. Dabei wurden theatralische Mittel wie Parodie und Verkleidungen in einer Weise eingesetzt, die heute wohl als Queer-Performance bezeichnet würde. Seitens ihrer männlichen Kollegen und der Jazzkritik ernteten FIG großteils scharfe und von Ressentiments durchsetzte Kritik: Sie spielten »technisch mangelhaft«, ja »dilettantisch« und ließen überhaupt den nötigen Ernst bei der musikalischen Sache vermissen. Bezeichnenderweise schallte es FIG dagegen aus der feministischen Szene entgegen, ihre Musik sei zu virtuos und abstrakt, ja unzugänglich und elitär.
In solchen Reaktionen spiegelte sich auch das Elend eines verbreiteten bewegungslinken Kulturverständnisses. In der linken Musikszene, die sich zum Ziel setzt, die mutmaßlich revolutionären Massen zu bewegen, schmeißt man sich bis heute gern an den vermuteten Publikumsgeschmack heran. Die Ergebnisse unterbieten oft noch das Niveau dessen, was die Kulturindustrie als massentauglich durchsetzt. Während sich der musikalische Populismus der Linken so mit der als kapitalistisch kritisierten Kulturindustrie und ihren falschen Tröstungen uneingestanden gemein macht, setzten Henry Cow und andere Projekte, an denen Cooper sich beteiligte, auf eine konfrontative musikalische Ästhetik, die Offenheit und die Bereitschaft zur Auseinandersetzung erfordert. Solch avancierte Musik auch einem unvorbereiteten Publikum zuzumuten, ist keineswegs elitär. Elitär ist eher die Vorstellung, bei der ästhetischen Avantgarde handle es sich um eine rein bildungsbürgerliche Veranstaltung, mit der man »der Klasse«, oder, wie heutige Linke es vielleicht formulieren würden, den »Subalternen« nicht kommen dürfe.
Auch in Aufsätzen und Interviews kritisierte Lindsay Cooper die Geschlechterverhältnisse und den Sexismus in allen Bereichen des Musikbetriebs und versuchte, aus dieser Kritik Konsequenzen für eine andere musikalisch-ästhetische Praxis zu ziehen. Allerdings äußerte sie sich allerdings kritisch gegenüber essentialistischen Definitionen weiblicher Identität und wandte sich gegen jede »übergreifende Definition ›feministischer Musik‹«.
Neben ihrer Arbeit mit Henry Cow und FIG gab Cooper auch zahlreiche Gastauftritte bei anderen Canterbury-Bands wie Hatfield and the North, Egg, National Health und dem durch die anarchistischen Spacerocker Gong bekannten Gitarristen Steve Hillage, die alle zugänglichere, aber deshalb nicht unbedingt qualitativ mindere Musik spielten.
Nach der 1978 erfolgten Auflösung von Henry Cow wirkte Cooper als Gastmusikerin auf dem ersten Album des Nachfolgeprojekts Art Bears mit, deren Aufnahmen teils noch als Henry Cow im Studio entstanden. 1983 gründete sie zusammen mit Cutler und Krause sowie der amerikanischen Harfenistin Zeena Parkins das stilistisch und politisch in der Tradition von Henry Cow stehende Projekt »News from Babel«.
Ein weiterer, eng mit ihren linken und feministischen Positionen verbundener Teil im Werk von Lindsay Cooper ist ihre Filmmusik. Das Album »Rags« etwa entstand als Musik für den Film »The Song of the Shirt«, der sich mit den Arbeits- und Lebensbedingungen sowie dem Widerstand von Frauen in den Sweatshops der Textilindindustrie um 1840 befasst. Lindsay Cooper recherchierte dafür eigenen Aussagen zufolge ausgiebig zeitgenössische Bänkellieder und andere Straßenmusik und bearbeitete dieses Material für ihre Filmmusik. Viele ihrer Filmmusiken entstanden in Zusammenarbeit mit ihrer engen Freundin, FIG-Mitbegründerin, Filmemacherin und Sängerin Sally Potter. Ab den achtziger Jahren war Cooper in der globalen Avantgardeszene aktiv, woraus zahlreiche Kooperationen mit Musikern wie Zeena Parkins, Alfred Harth, Phil Minton, Mike Westbrook, Lol Coxhill, John Zorn und David Thomas von Pere Ubu resultierten.
In enger Zusammenarbeit mit Sally Potter als Textautorin und Sängerin entstand auch Lindsay Coopers Songzyklus »Oh Moscow«, eine politisch-poetische Reflexion über den Kalten Krieg. Das Werk wurde 1987 uraufgeführt, Lindsay Cooper ging mit »Oh Moscow« anschließend fast fünf Jahre weltweit auf Tour, während die darin thematisierte politische Spaltung Europas sich buchstäblich vor den Augen der Musiker und ihres Publikums aufzulösen begann. Musikalisch gehört »Oh Moscow« zu den zugänglicheren Arbeiten Coopers, als zeithistorisches künstlerisches Dokument ist es sicher einzigartig. Bis zum krankheitsbedingten Ende ihrer Karriere unternahm Cooper weitere solcher politisch-musikalischen Reflexionen über das Zeitgeschehen, etwa Anfang der neunziger Jahre mit »Sahara Dust« über den damaligen Golfkrieg und 1994 mit dem Stück »Nightmare« für das von verschiedenen Künstlern getragene Gemeinschaftsprojekt »Sarajevo Suite«. Schließlich trat sie auch als Komponistin von moderner Kunstmusik und Choreographien hervor, darunter mit ihrem »Concerto for Sopranino Saxophone and Strings«.
Vermutlich bereits Ende der siebziger Jahre, noch während der Endphase von Henry Cow, wurde bei Lindsay Cooper Multiple Sklerose diagnostiziert. Sie hielt das Wissen um ihre Erkrankung selbst vor ihren engsten Freunden und Bandmitgliedern so lange wie möglich geheim, weil sie befürchtete, ständig darauf angesprochen oder gar auf ihre Krankheit reduziert zu werden. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand zusehends, so dass sie nach und nach alle ihre Aktivitäten aufgeben musste und schließlich bis zu ihrem Tod mit finanzieller Unterstützung ihres Freundeskreises in ihrer Wohnung gepflegt wurde.
Zu den Gedenkkonzerten in London (21. November) und Huddersfield (22. November) werden neben den verbliebenen Mitgliedern von Henry Cow auch zahlreiche weitere der erwähnten Musiker zusammenkommen, um dort auch Coopers Filmkompositionen, Musik von »News from Babel« und schließlich den Zyklus »Oh Moscow« noch einmal aufzuführen. Chris Cutler kündigte an, aus diesem Anlass auch eine Doppel-CD mit vergriffenem und unveröffentlichtem Material von Lindsay Cooper herauszubringen.