Zum Tode von Frank Schirrmacher

Der Herr des Feuilletons

Der Umbau der FAZ erfolgt ohne ihn: über den frühen Tod von Frank Schirrmacher.

Noch immer kann man seinen Twitter-Account einsehen. Frank Schirrmacher postete dort bis zu seinem Tod täglich Nachrichten, oft setzte er drei bis vier Tweets an einem Tag ab. Immer wieder ging es um das Internet, seltener um Opern oder Bücher. Sein letzter Tweet zeigte seine Sorge angesichts der vorrückenden Isis-Einheiten im Irak: »Bilanz des Krieges gegen den Terror: Der Irak fällt in die Hände von Leuten, die selbst AlKaida zu extrem sind.« Dazu ein Link auf einen Artikel im Guardian. Von der Nachricht seines plötzlichen Todes im Alter von nur 54 Jahren zeigten sich selbst jene berührt, die seinem machtbewussten Auftritt wie seinen feuilletonistischen Einlassungen zu allem Möglichen ausgesprochen kritisch gegenüberstanden.
Schirrmacher war einer der jüngsten Redakteure in der Geschichte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, er war der jüngste Leiter des Literaturressorts, als Nachfolger von Marcel Reich-Ranicki, er war der jüngste Leiter des Feuilletons, als Nachfolger von Joachim Fest, der ihn 1984 als Hospitanten in das Blatt geholt hatte, und er war 20 Jahre lang Mitherausgeber der Zeitung, deren heutiges Erscheinungsbild er wesentlich geprägt hat. So fällt es fast schon schwer, den Zeitpunkt seines Todes nicht in Verbindung mit dem derzeit vorbereiteten Umbau in der Zeitung bringen: Der als besessen geltende Journalist erleidet einen Herzinfarkt in einer Zeit, in der die FAZ in ihrer bisherigen Form auf den Prüfstand gestellt wird. Der Verlag hat sich »Berater« ins Haus geholt, die Antworten auf die Printkrise suchen sollen. Entlassungen und eine »Verschlankung« der Redaktion sind wahrscheinlich. Schirrmacher hat stets für »sein« Feuilleton, aber auch für das gesamte Blatt gekämpft und sich vor seine Leute gestellt, wenn es darum ging, eine personell gut ausgestattete Redaktion gegen die Einfälle der Geschäftsführung zu verteidigen. Er liebte dabei, ganz Patriarch, offensichtlich jene, die er antrieb. Ganz im Sinne seiner Redakteure äußerte sich Schirrmacher noch in der vergangenen Woche. Der Spiegel zitierte ihn in der Woche seines Todes mit diesem Satz: »Unser Readerscan widerlegt die Behauptung, der moderne Leser wolle nur noch einen schnellen Überblick und kurze Artikel, zumindest für die FAZ total.« Die finale Auswertung ist für Juli angekündigt, es ist schwer vorstellbar, dass das Feuilleton durch den Tod Schirrmachers nichts von seiner bislang starken Position innnerhalb des Blattes einbüßen wird.
Selbst ein Journalistenkollege wie Gustav Seibt, der zeitweilig als Literaturchef im Ressort tätig war und die FAZ nicht zuletzt wegen Unstimmigkeiten mit Schirrmacher verlassen haben soll, kommt ins Schwärmen über den Verstorbenen. Das Ansehen, das dieser unter Feuilletonisten und Medienleuten genießt, speist sich nicht zuletzt daraus, dass Schirrmacher das deutschsprachige Feuilleton und die Rolle des Feuilletons schlechthin verändert hat. Erst vor wenigen Wochen gelang es ihm, das Kulturressort innerhalb des Blattes zu adeln, indem er das Feuilleton der FAZ in das zweite Buch der Ausgabe rückte: nach der Politik zwar, aber vor der Wirtschaft. Das wäre bis in die neunziger Jahre undenkbar gewesen; die Kultur war dem Kampfblatt der deutschen Marktradikalen bis dato immer nur schmückendes Beiwerk gewesen.
Ende der neunziger Jahre hatte Schirrmacher, der das gesamte Feuilleton der FAZ gerne von Berlin aus produziert hätte, die »Berliner Seiten« ins Leben gerufen, die bis 2002 produziert wurden. Mit dieser Beilage sollten Leser und Leserinnen in der immer wichtiger werdenden Hauptstadt gewonnen werden, doch fand man kaum Lokalnachrichten in dieser »Lokalausgabe«, sondern vielmehr eine feuilletonische Betrachtung der Stadt. Das neue, aufregende Berlin aber, in dem lauter neue Tucholskys und Kracauers flanierten, hatte sich der zu dieser Zeit bereits in Potsdam lebende Schirrmacher wohl nur erträumt. Zwischen Spandau und Köpenick jedenfalls war es nicht zu finden. Die »Berliner Seiten« fanden einen Nachfolger, der weitaus erfolgreicher wurde – die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die seit dem September 2001 bundesweit erscheint und inzwischen eine deutlich höhere Auflage als die täglich erscheinende FAZ hat. Das zuvor nur in der Rhein-Main-Region erschienene Sonntagsblatt wurde unter Schirrmachers Leitung knallbunt umgestaltet und mit einem grundsätzlich ironischen Ton versehen. Die FAS schaut in all ihren Ressorts mit spöttischer Distanz auf den Lauf der Welt, in großen Reportagen und Dutzenden von Glossen wird das Publikum unterhalten.
Auch in das althergebrachte FAZ-Feuilleton brachte Schirrmacher Bewegung, mehr Unterhaltung, mehr Lebensweltliches, das Themenspektrum wurde breiter. Neben den gelehrten Aufsätzen zu Goethe, Rubens und Beethoven standen jetzt naturwissenschaftliche Diskussionen, Rezensionen zu Popmusik, Kritiken zu HBO-Serien wie »Sex and the City«. Schirrmachers persönliche Mission war es, dramatische Entwicklungen vorherzusehen, in der Demographie, in der Medizin oder der digitalen Kultur, und Alarm zu schlagen. Er lobte, mahnte und kämpfte dabei nicht selten mit der deutschen Sprache, für deren exzellente Beherrschung ihm dennoch ein Preis verliehen wurde. Schirrmacher engagierte sich für seine Zeitung und wurde zu so etwas wie ihrem Gesicht – er war derjenige, den auch jene kannten, die die FAZ nicht einmal gelegentlich zur Hand nahmen.
Schirrmacher reichte es aber nicht, nur für die FAZ zu stehen, er wollte zunehmend für sich selbst stehen. So verlegte er sich darauf, nebenher und unter Ausnutzung seiner Medienmacht Bestseller zu schreiben, Bücher, die von Bild bis Bunte, von Focus bis Stern gelobt wurden und an denen selbst die mit der FAZ verfeindete Süddeutsche Zeitung nicht vorbei kam. Sein Buch »Das Methusalem-Komplott« behandelt die drohende »Überalterung der Gesellschaft«, in seinem Buch »Minimum« machte er sich Sorgen über den Fortbestand der Familie als »Keimzelle der Gesellschaft«, in »Payback« sah er im Internet einen Angriff auf die Grundlagen der Kultur, in »Ego. Das Spiel des Lebens« schließlich schrieb er allerhand Unsinn zu der an sich schon haarsträubenden These, dass die Banker mit Hilfe der im Kalten Krieg entwickelten Spieltheorie uns alle in zwei Personae aufspalteten, deren eine dann schwerst manipuliert würde. Mit diesem Buch gewann er viele kopflose Linke für sich, die danach lechzten, dass ein Prominenter auch einmal ein bisschen Kapitalismuskritik übt.
Schirrmacher war allerdings selbst dann, wenn er zugab, dass »die Linke« in einigen Punkten recht habe, und Peter Hacks mit den Worten »Er ist unser« feierte, stets der konservative Anhänger von Stefan George, Thomas Mann und Gottfried Benn. Wenn er Günter Grass in einem Interview das Bekenntnis entlockte, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, so ging es ihm auch darum, einen eitlen Sozialdemokraten zu blamieren. Martin Walser hin­gegen wurde von Schirrmacher stets hofiert. Zwar kritisierte er dessen antisemitisch gefärbtes Buch »Tod eines Kritikers«, da Walser damit Reich-Ranicki diffamiert hatte, aber das hatte keine Konsequenzen. Bereits Walsers berüchtigte Rede in der Paulskirche wurde von Schirrmacher mit Beifall aufgenommen. Schirrmacher fürchtete die Macht der Frauen, über Liz Mohn, Friede Springer, Ulla Berkéwicz und Sabine Christiansen schrieb er: »Eine Telefonistin, ein Kindermädchen, eine Schauspielerin und Schriftstellerin und eine Stewardess de­finieren das Land.« Thilo Sarrazin gab er eine Bühne – und verriss ihn zugleich, Sarrazins allzu eitles Geraune war dem Bildungsbürger, den Schirrmacher gern spielte, zu niveaulos.
Mit seinem plötzlichen Tod hat er eine weitere große Kampagne im Feuilleton ausgelöst. Das hätte Frank Schirrmacher vermutlich gefallen.